Republikanische Islamistin vor Gericht

Es braucht nicht viel, um in Marokko vor Gericht zu kommen. Im Fall von Nadja Yassine reichte ein Interview, um sie wegen eines „Angriffs auf die Monarchie“ vor den Kadi zu bringen. Ihr drohen bis zu fünf Jahren Haft. Die 47-Jährige ist Sprecherin der größten marokkanischen Islamistenorganisation, Al Adl wal Ihssane (Gerechtigkeit und Geistlichkeit). Anfang Juni erklärte sie gegenüber der Al Ousbouiya Al Jadida (Neue Wochenzeitung), dass sie lieber eine Republik als eine Monarchie im Lande sähe.

Das grenzt für Marokkos König Mohammed VI. an Hochverrat. Da er nicht nur Staatschef, sondern auch „Führer aller Gläubigen“ ist, sieht er sein Regime als gottgewollt. Zwar hat Yassine auch früher schon Ähnliches gesagt, doch nur in frankofonen Medien oder im Ausland. „Diesmal war es auf Arabisch, der Sprache des Volkes“, erklärt sich Yassine, warum sie heute vor Gericht muss.

Die Tochter von Scheich Abdeslam Yassine, dem Gründer der Al Adl wal Ihssane, ist dem König schon lange ein Dorn im Auge. Viele Jahre saß der Vater in Haft oder Hausarrest, und Tochter Nadja wurde sein Sprachrohr. Zwar ist der Alte jetzt frei, doch die Tochter behält die Zügel in der Hand.

Yassine spielt gern mit dem Überraschungseffekt einer Frau an der Spitze einer islamistischen Organisation. In perfektem Französisch gibt sie Interviews oder hält Vorträge rund um den Globus. Auf Arabisch begeistert sie die Anhänger von Al Adl wal Ihssane in den armen Vierteln der Städte oder an den Unis. Deshalb heißt sie auch „die Pasionaria des Islamismus“, in Anlehnung an die Führerin der spanischen Kommunisten, Dolores Ibárruri.

Dezent geschminkt versteckt sie das Haar unter einem Kopftuch. Für ihr Gegenüber hat sie immer ein aufmerksames Lächeln. Sie verführt die Zuhörer mit ihrer sanften, aber bestimmten Stimme. Die Absolventin des französischen Gymnasiums Descartes kennt zwei Welten; die der islamischen Theologie und die des Westens.

Durch keine Frage lässt sie sich verunsichern, auch nicht nach der Rolle der Frau im Islam. „In einer wirklich islamischen Gesellschaft werden wir auf allen Ebenen beteiligt sein“, verkündet die Kultur- und Politikwissenschaftlerin. „Ich bin aber keine Feministin“, fügt sie schnell hinzu. Denn anders als die Frauen der Linken stehe sie zur Familie. Zu Interviews empfängt die Mutter von vier Kindern gern zu Hause in Sale. Ihr Mann, selbst ein islamistischer Führer, deckt dann den Tisch und trägt Tee und Gebäck auf.

Viel wird spekuliert, ob Yassine irgendwann ihren betagten Vater in der Nachfolge von Al Adl wal Ihssane beerben wird. Eine „Imama“ – Vorbeterin – gibt es bisher in keinem muslimischen Land. REINER WANDLER