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Archiv-Artikel

Friedlich gegen Dschihadisten

LIBYEN Radikale Islamisten nutzen das Machtvakuum und marschieren durch das liberale Bengasi. Doch Gegendemonstranten wickeln sie in eine lange Fahne und drängen sie ab

ICC-Delegation wird in Sintan festgehalten

■ In der libyschen Provinzstadt Sintan wird eine Delegation des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) mit Kontakt zu dem dort inhaftierten Sohn von Muammar al-Gaddafi festgehalten. Der ICC-Anwältin Melinda Taylor werde vorgeworfen, Saif al-Islam verdächtige Unterlagen zugespielt zu haben, sagten ein libyscher Jurist und ein Vertreter der Miliz in Sintan. „Sie sitzt nicht im Gefängnis, sondern wird in einem Gästehaus festgehalten“, sagte der in Libyen für den Prozess gegen Saif al-Islam verantwortliche Ahmed al-Dschehani am Samstag. Die Dokumente für den Gaddafi-Sohn stammten von seiner früheren rechten Hand Mohammed Ismail. Zudem seien von Saif al-Islam unterzeichnete Blanko-Seiten gefunden worden. Er hoffe, dass die ICC-Delegation bald wieder freikomme.

■ Das Verfahren gegen den bekanntesten Sohn Gaddafis gilt als Test für Libyen. Doch die Miliz in Sintan verweigerte die Anordnung der Zentralregierung, die ICC-Vertreter freizulassen. „Sie bleiben bis zu weiteren Verhören in Haft“, sagte der Chef der Brigaden, die Saif al-Islam im November festgenommen hatten. Beim ICC war zunächst niemand für eine Stellungnahme zu erreichen. Die Regierung in Tripolis will Saif al-Islam den Prozess machen. Ihm werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. (rtr)

AUS BENGASI MIRCO KEILBERTH

In dem mediterranen Café gegenüber der ehemaligen italienischen Kathedrale von Bengasi haben es sich Mohammed Asis und seine Freunde gemütlich gemacht. Mit ihren hochgegelten Haaren, den Ray-Ban-Sonnenbrillen und engen Jeans könnten sie einem italienischen Modemagazin entstiegen sein. wie viele Jugendliche in der ostlibyschen Hafenstadt. Aus dem nagelneuen Toyota von Mohammeds Vater brummen die Bässe von Madonnas neuestem Hit. Radio Shabab, der neue Jugendsender Bengasis, sendet westliche Popmusik, die über 20 Jahre lang verboten war.

„Hier an der Promenade hängen wir nachmittags ab und genießen unsere neue Freiheit“, sagt Mohammed, „hier sind wir für ein paar Stunden frei von familiären Zwängen und Erinnerungen des Krieges.“ Doch die Ansage des Radiomoderators von Shabab lässt die Stimmung abrupt sinken.

Dschihadisten aus ganz Ostlibyen wollen an diesem Tag auf dem Tahrirplatz Bengasis für die Einführung der Scharia demonstrieren. Sie werden gleich kommen, Mohammed dreht schon mal das Radio leiser. Besucher der benachbarten neuen Kunstgalerie, der Sicherheitschef einer österreichischen Firma und eine Gruppe deutscher Unternehmer sichern sich Plätze am Straßenrand. Die Unternehmer wollen sich über die Sicherheitslage im Osten informieren und alte Kontakte treffen. Sie werden Zeugen einer denkwürdigen Demonstration der Stärke der neuen islamistischen Szene Libyens.

Pick-ups mit Luftabwehrgewehren rollen in einer kilometerlangen Kolonne am Café vorbei, dazwischen Familienwagen mit Kindern auf dem Weg zu Bengasis Stadtstrand.

Die sichtbar fronterfahrenen Jungs auf den Geländewagen tragen lange Bärte, Kalaschnikows, paschtunische Mützen, einige auch weiße Gewänder. „Wir sind hier doch nicht in Afghanistan“, sagt ein älterer Herr im Anzug ungläubig. Wie eine siegreiche Armee zieht die Fahrzeugkolonne zu dem Ort, wo die libysche Revolution vor über einem Jahr begann. Die Gesichter sind meist freundlich, mit Koranversen bedruckte schwarzen Fahnen werden geschwenkt, aber einige filmen die Zuschauer. Und einige stammen eindeutig nicht aus Libyen, wie Passanten aus Bengasi verwundert feststellen.

„Wir werden die Scharia einführen, ob du willst oder nicht, Ungläubiger“, ruft mir einer mit sehr langem Bart zu, als ich vorsichtig beginne, Fotos zu machen. Die Beschimpfung ist dem Revolutionär neben mir sichtbar peinlich. Er hat im Krieg ein Bein verloren und sorgt hier für die Sicherheit: „Sorry“, ruft er mir beschwichtigend zu, „Ausländer sind in Libyen natürlich willkommen, ich habe für die Rechte aller in Libyen gekämpft.“

Der österreichische Sicherheitsmann stimmt da nur teilweise zu. Bengasi sei zwar sicher, sagt er, aber vor dem Firmen-Büro hat ein islamistische Brigade eine eindeutige Warnung an alle Ausländer plakatiert. Von den 10.000 Ausländern vor der Revolution sind noch rund 500 übrig geblieben, der Rest wartet auf den wirtschaftlichen Neustart des reichsten Landes auf dem afrikanische Kontinent. Aber dafür ist ein sicheres Umfeld nötig.

Ein ausgebrannter Container direkt vor dem Fabrikgelände der Österreicher zeugt von einer heftigen Schießerei zwischen der neuen Militärpolizei und einer der 80 bewaffneten Brigaden in der Stadt. Die Angaben der Opferzahl dieses Kampfes schwankt zwischen eins und neun. Sichere Informationen sind eines der Hauptprobleme im nachrevolutionären Libyen. Es gibt keine funktionierende Polizei oder sonstige Institution, wo man nachfragen könnte. Gerüchte bestimmen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit und diese verbreiten sich in Windeseile.

Der Anschlag auf das US-Konsulat in Bengasi ist wohl die Rache der Islamisten für die Liquidierung des libyschen Al-Qaida Kommandeurs Abu Jahja al-Libi durch eine US-Drohne in Pakistan, hört man auf Bengasis Straßen. Und dass die Dschihadisten die Wahlen verhindern werden. Heute wollen sie den Libyern auf dem Tahrirplatz die Scharia erklären und warum Parteien unislamisch sind.

„Wir haben die Revolution nicht gemacht, um aus Libyen ein Afghanistan zu machen“

EIN PASSANT ÜBER DIE DSCHIHADISTEN

Wie ein Lauffeuer hat sich ihr Aufmarsch in der Stadt verbreitet. Waffen in der Öffentlichkeit zu tragen, ist schon lange verpönt, und Bengasi ist eine liberale Stadt. Die meisten Frauen tragen zwar ein Kopftuch, aber an den zehn privaten Universitäten der Stadt sind 80 Prozent der Studierenden Frauen. Sie sind das Feindbild der Dschihadisten und bleiben heute zu Hause.

Binnen zwei Stunden hat das bürgerliche Bengasi auf Facebook eine Gegendemonstranten organisiert. Jung und Alt versperren den Bärtigen den Weg zum Revolutionsplatz – ohne Waffen. Sie sind zahlenmäßig weit überlegen, die Radikalen haben aus Ostlibyen 1.000 Leute versammelt. Die Mehrheit beschwert sich über das martialisches Auftreten der Demokratiegegner. „Ich bin gläubiger Muslim, mir muss keiner erzählen, was im Koran steht, den kenne ich auswendig“, sagt ein Mann aufgebracht, „wir haben die Revolution nicht dafür gemacht, um aus Libyen eine Art Afghanistan zu machen“, poltert er weiter.

Mit ihren schweren Waffen und ihrem an al-Qaida erinnernden Auftreten scheinen die Dschihadisten diesmal übertrieben zu haben. Die Menge kreist sie mit einer 50 Meter langen libyschen Fahne ein und drängt sie friedlich vom Platz. Die Drohung einer moderaten Miliz aus Bengasi, den Platz zu stürmen, sollten die Dschihadisten auch nur einen einzigen Schuss abfeuern, liegt in der Luft.

„Sie haben kürzlich eine Bombe auf das amerikanische Konsulat geworfen und sind gegen die Wahlen“, sagt Mohammed Ibrahim, der Chef von Radio Shabab. „Das kommt hier nicht gut an, seitdem wir kürzlich den Lokalrat von Bengasi ohne irgendwelche Zwischenfälle gewählt haben. Und die Vorsitzende dieser ersten gewählten Institution seit 42 Jahren wird wohl eine Frau werden.“ Der 26-Jährige hat die Dschihadisten eingeladen, um in seiner Radio-Talkshow zu erklären, was sie unter der Scharia verstehen. „Ich habe ihnen gesagt, dass Demokratie bedeutet, Meinungsverschiedenheiten mit Worten und nicht mit Waffen auszutragen. Aber noch habe ich keine Antwort bekommen.“