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Archiv-Artikel

Der Glanz der Konfusion

Frau mit Bart, Mann im Rock: Bei der Ausstellung „1-0-1 Intersex, Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung“ in der NGBK geht es um Vielfalt und Verwirrung als Rettung vor der Ödnis

Eines von 2.000 Neugeborenen hat kein eindeutiges Geschlecht

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Die Räume waren bereits bei der Eröffnung hoffnungsvoll überfüllt, viele Besucher kannte man aus der Oranienstraße, aus dem Bierhimmel, Möbel Olfe, SO 36. Es war zu voll, um etwas zu sehen, und so hörte man nur aus der Ferne die Gruß-und Dankesworte der AG 1-0-1 (one o’ one) Intersex, die zusammen mit dem Graduiertenkolleg der HU „Geschlecht als Wissenschaft“ die Ausstellung und Veranstaltungsreihe organisiert hat.

Wer sich im Lauf des Abends immer weiter vordrängte, der konnte dann eine heitere Pärchen-Performance sehen. Die Intersexaktivisten De La Grace Volcano & Indra Windh beschreiben sich selbst und ihre Wirkung auf andere und exerzieren dabei alle Möglichkeiten der geschlechtlichen Zuschreibungen durch: Eine Frau mit Schnurrbart und Sommerkleid, aber ohne Ausbuchtung in Brusthöhe? Also ein Mann, oder doch eine Frau? Vielleicht Crossdresser, Dragqueen? Der Mann ist kleiner und trägt einen Rock, hat aber muskulöse Oberarme … Ein gymgestählter Schwuler? Aber beide haben Lippenstift aufgelegt! „Do I look more male/female when I’m with you?“, fragen sie sich gegenseitig und geben mit dieser interessanten Geschlechterverwirrung den Auftakt für das Programm der nächsten Wochen, in denen man sich qua bildender Kunst, einem Archiv und der Veranstaltungsreihe mit dem Thema Intersexualität befassen will.

Intersexuell bezeichnet man Personen, die mit einer atypischen körperlichen sexuellen Differenzierung geboren wurden. Die Menschenrechtsverletzung, von der im Titel der Ausstellung die Rede ist, liegt in der gängigen Praxis, intersexuelle Kinder ab der sechsten Lebenswoche chirurgisch und hormonell einem Geschlecht zuzuweisen. Oft werden schwerwiegende chirurgische Eingriffe fortgesetzt, die, so der medizinische Jargon, „ein normales Leben ermöglichen sollen“, aber einen Zwang zur Normierung und Reproduktion bedeuten. Intersexuelle Kinder werden als Forschungsobjekt missbraucht, sollen lebenslänglich Hormone einnehmen und bis zu hundert gynäkologische Untersuchungen über sich ergehen lassen. Die Folgen dieser Zwangsgeschlechtszuweisung: Viele werden manisch depressiv, ziehen sich posttraumatische Stresssymptome zu, leiden unter dem Borderlinesymptom oder multipler Persönlichkeitsstörung. Suizidversuche sind eher die Regel als die Ausnahme – all das ist in letzter Zeit auch durch den Erfolg von Jeffrey Euginides’ Hermaphroditen-Erzählung „Middlesex“ ein wenig mehr ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Das wurde auch Zeit, denn bei Hermaphroditen, auch Zwitter oder Intersexuelle genannt, handelt es sich auch rein statistisch gesehen nicht um eine seltene „Laune der Natur“: Zwei Prozent der Gesamtbevölkerung, 1,6 Millionen Menschen in Deutschland, mindestens eines von 2.000 Neugeborenen haben kein eindeutiges Geschlecht.

Die Strategie der ausstellenden Künstler und Künstlerinnen in der NGBK, die teilweise auch als Intersexaktivistinnen an den Veranstaltungen des Rahmenprogramms beteiligt sind, ist das Sichtbarmachen von Uneindeutigem: Vielfalt zulassen, könnte ein Ausweg sein aus der binärgeschlechtlichen Ödnis.

So beschreiben zum Beispiel die kleinformatigen, filigranen intimen Zeichnungen der Künstlerin INs A Kromming – Zeichnungen siamesischer Zwillinge zum Beispiel, die einerseits rosig embryonal wirken, andererseits über ausgebildete männliche oder weibliche Geschlechtsorgane verfügen – die Absurdität medizinischer Kategorien und der Sehnsucht nach Ordnung. „Zwitter“ lautet ein Schriftzug an der Wand, zusammengesetzt aus einem Mosaik von Spiegelstückchen, die den Betrachter beim Lesen optisch in seine Einzelteile zerlegen. Dahinter, teilweise verdeckt, liest man medizinische Fachausdrücke zur Beschreibung der Intersexualität. Weiter hinten steht das hölzerne „Phallometer“: Bis zu einem Zentimeter reicht der rosa Mädchenbereich, ab 2,5 Zentimeter beginnt der hellblaue Jungenbereich, über dem schwarzen Zwischenbereich steht „Unakzeptabel“.

Am Wochenende wurde in der NGBK Roz Mortimers Dokumentarfilm „Gender Trouble“ gezeigt. Die britische Künstlerin und ehemalige Textilgestalterin hat intersexuelle Personen zur gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht befragt, hinter den Personen sieht man Blüten, die sich bewegen – so wird eine Atmosphäre der Instabilität erzeugt, außerdem schwingt der Garten als Metapher für Kontrolle mit, für das menschliche Bedürfnis, die Natur zu steuern.

Danach präsentierte Del LaGrace Volcano Filmbeiträge und Fotoarbeiten. Er bezeichnet sich selbst als „Gender Terrorist“, weil er „stetig und absichtsvoll das binäre System der Zweigeschlechtlichkeit subvertiert, destabilisiert und in Frage stellt“ und die hermaphroditischen Spuren an seinem Körper verstärkt anstatt sie auszulöschen. „Queering public space“ nennt er seinen Geschlechteraktivismus, zeigt Fotos von seinen Aktionen, die oft wie Selbstporträts wirken, und verwirrt die Zuhörer mit kleinen demografischen Erhebungen. In seinen Filmen „Gender Queer que est-ce que c’est?“ lässt er Menschen uneindeutigen Geschlechts durch die städtische Landschaft ziehen. Damit, sagt er, will er „das Konzept des Flaneurs aus der Hand toter weißer Männer befreien“.

Während man danach in der NGBK auf Terre Theamlitz’ Performance „Lovebomb“ wartet, tanzen draußen die Besucher des transgenialen CSD alkoholisiert von Caipirinha und Erdbeermargarita auf der Straße zu dem üblichen Sambagetrommel, ein paar Meter weiter aber auch zu türkischer Popmusik. Männer in Brautkleidern, türkische Geschäftsfrauen, ein entfesselter Eismann und Rucksacktouristinnen versuchen sich hingebungsvoll im orientalischen Tanz, jeder flirtet mit jedem. Vor den Männercafés bilden sich staunende Männergruppen, ungläubig, schockiert, irritiert aber auch stark interessiert. An diesem Abend war die Oranienstraße jedenfalls voll gequeert – und einen Moment lang hatte man das Gefühl, die Langweile der Zweigeschlechtlichkeit gehört bereits der Vergangenheit an.

Bis 31. Juli, NGBK, Oranienstr. 25. Vorträge, Lesungen, Performances, Gespräche zum Thema Do.–Sa., Programm unter www.101intersex.de