: Lena Wolter hat die Ausreden satt
Seit Jahren kämpft die Kölnerin für eine bessere Bezahlung pflegender Angehöriger behinderter Familienmitglieder. Ihr Sohn verunglückte im Juni tödlich. Trotz der Tragödie will sie weitermachen
VON SEBASTIAN SEDLMAYR
Sie kämpft gegen mitleidiges Unverständnis und gegen die deutsche Sozialgesetzgebung. Lena Wolter will nicht hinnehmen, dass Verwandte für die Rund-um-die-Uhr-Versorgung ihrer behinderten Familienmitglieder deutlich schlechter bezahlt werden als die Pflegedienste. Jahrelang hat die Kölnerin ihren behinderten Sohn Marcel gepflegt. Dafür bekam sie knapp 665 Euro pro Monat. Der Pflegedienst, der Marcel morgens aus dem Bett hob, erhielt für täglich vier Stunden rund 1.430 Euro.
Für Marcels Mutter hieß das: kein Urlaub, kein freier Abend und sparen, sparen, sparen. Selbst die hoch dotierte Arbeit der Pflegeeinrichtungen brachte wenig, wenn ungelernte Kräfte erschienen. Bei Personalnotstand ist das erlaubt. „Ich leite die Studenten und Hausfrauen ja selbst an“, sagte Wolter der taz vor zwei Jahren. „Das ist für mich doch keine Entlastung.“
Mit ihrem SPD-Ortsverein in Weidenpesch hat Lena Wolter zwei ausführliche Anträge formuliert, damit pflegende Angehörige besser gestellt werden und damit es für sie eine zentrale Anlaufstelle gibt. Ein Antrag ging im Jahr 2002 nach Berlin, der andere ein Jahr später. Sie trat im WDR-Fernsehen auf, um ihr Anliegen publik zu machen. „Aber bis jetzt hat sich noch nichts geändert“, sagt die 41-Jährige.
Für ihren Sohn kommt inzwischen jede Hilfe zu spät. Bei einem Autounfall am 18. Juni war Marcel mit dem Kopf gegen die Armatur gekracht. „Den Schock hat er nicht verwunden“, sagt seine Mutter. Immer heftiger habe sich der geistig behinderte und autoaggressive 19-Jährige in den folgenden Tagen selbst geschlagen und seinen Schädel gegen die Wand gerammt.
Drei Tage nach dem Unfall riss der 2,05 Meter große Junge die Sicherung aus dem Fenster seines Zimmers im obersten Stock eines Mietshauses in Bilderstöckchen. Er ließ sein Spielzeugauto über das Dach in die Tiefe rutschen. Dann stieg Marcel hinterher und stürzte ab. Wo er starb, steht heute ein Blumenkübel. Marcels Kinderzimmer ist schon ausgeräumt, die Wand frisch gestrichen. Aber natürlich kommt die Erinnerung immer wieder hoch, blitzt das Bild von Marcel hinter jeder noch so dicken Farbschicht hervor. Lena Wolter sitzt im Zimmer nebenan und ringt um Fassung. Ihr Lebensgefährte verabschiedet sich; er müsse um den Block laufen. „Sonst dreh‘ ich durch.“ Er hat die letzten Nächte kaum geschlafen. Immer wieder läuft der Film vor ihm ab: das Gepolter auf dem Dach, der Blick ins leere Zimmer, Marcels Körper auf dem Steinboden im Hof.
Die Rollos hinter Lena Wolter sind zugezogen. Den Blick auf den Balkon kann sie nicht ertragen. Sie blendet die Tragödie für einen Moment aus und redet über die Ungerechtigkeiten der Pflegegesetze. In den letzten Jahren hat sie sich schlau gemacht. Die einschlägigen Paragrafen des Sozialgesetzbuches kann sie herunterbeten wie eine Gesundheitspolitikerin.
Sie hat die Lügen und Ausreden satt. „Nur dumme Sprüche“ habe sie gehört – von der CDU wie von der SPD. Auf viele Briefe habe sie gar keine Antwort bekommen. Der soeben zum NRW-Sozialminister gekürte CDU-Politiker Karl-Josef Laumann habe ihr geschrieben, dass Rot-Grün alle Anträge für eine Verbesserung abgelehnt habe. Ihre Nachforschungen hätten aber ergeben, dass die CDU für Härtefälle in häuslicher Pflege gar keine Anträge gestellt hat. „Man wird verarscht“, sagt Lena Wolter bitter.
Es wird lange dauern, bis sie den Verlust Marcels verwunden hat. Vielleicht wird dabei helfen, das Schicksal der anderen Angehörigen von pflegebedürftigen Kindern nicht aus den Augen zu verlieren. Lena Wolter will jedenfalls weitermachen. Sie will wieder ins Fernsehen, in die Zeitung, will jede Öffentlichkeit nutzen, um auf die Missstände aufmerksam zu machen, in denen sie so tief gebohrt hat. Auch die Hoffnung auf ihre SPD hat sie noch nicht ganz aufgegeben.
„Ich kann nur dafür kämpfen, dass sich für andere Kinder noch etwas ändert“, sagt Lena Wolter. „Für meinen Sohn kann ich nichts mehr tun.“ Marcel wurde am Dienstag beerdigt.