: Hälfte eines Lebens
Am Sonntag vor 20 Jahren gewann ein rotblonder, 17-jähriger Leimener das berühmteste Tennisturnier der Welt. Seitdem ist Boris Becker ein Stück Wimbledon – für immer und ewig
AUS WIMBLEDON DORIS HENKEL
Gelegentlich steht er auf dem Dach des Fernsehzentrums und blickt mit Wohlgefallen auf die grünen Tennisplätze zu seinen Füßen. Auf die Menge der Menschen da unten, aus der garantiert irgendeiner raufschaut, mit dem Finger zeigt und „Boris!“ ruft. Er kennt das; im All England Lawn Tennis Club geht das seit 20 Jahren so, und ob er darauf reagiert, hängt in erster Linie von Lust und Laune ab. Wenn er, um sich zur Kommentatoren-Kabine zu begeben, zu ihnen hinabsteigt, dann öffnet sich schnell eine kleine Gasse; die Menge teilt sich, die Menge staunt, die Menge raunt. Immer noch.
Boris Becker, 37, ist nicht der einzige Spieler mit großer Vergangenheit, der jedes Jahr in die heiligen Hallen des Tennis zurück kehrt. Für die britische Fernsehgesellschaft BBC arbeitet die Prominenz. Da sitzen John McEnroe und neuerdings auch dessen einstiger Lieblingsfeind Jimmy Connors, zu besonderen Gelegenheiten melden sich Chris Evert oder Martina Navratilova, und sie alle bewegen sich ohne größeres Aufsehen im Club. Becker aber schreitet extrem aufrecht mit seinem seltsam verzögerten, bedeutungsschweren Gang. Von Natur aus eine imposante Erscheinung, wirkt er dank seiner Stromfrisur, als messe er zwei Meter. Er weiß, dass es Leute gibt, die sich über seine Frisur lustig machen, aber er trägt sie nun schon ziemlich lange so. Ist das keine Art von Aussage, wenn man nach 20 Jahren mit mindestens 20 verschiedenen Frisuren auf einmal nichts mehr ändert? Und passt das nicht zu seiner Antwort auf die Frage, wie es ihm gehe, 20 Jahre nach dem persönlichen Urknall: „Jetzt hab ich das Gefühl, dass in meinem Haus alles in Ordnung ist.“
In den zwei Wochen der All England Championships ist er so beschäftigt wie sonst zu keiner Zeit im Jahr, und diesmal scheint er an allen Orten gleichzeitig zu sein. Kommentiert und analysiert für die BBC, erklärt den Zuschauern im DSF, wie Tennis auf Rasen funktioniert, behauptet nebenbei, er sei ein Phänomen. Schreibt Kolumnen für die Times und tritt als Botschafter für die Olympiabewerbung Londons auf. Überall, immer da. Es ist fast so wie damals. Im September 85 schrieb ein Leser des Magazins Stern folgenden Brief: „Wenn ich das Radio anmachte, was hörte ich? Boris Becker! Wenn ich das Fernsehgerät einschaltete, wen sah ich? Boris Becker! Wenn ich die Zeitungen aufschlug, über wen las ich? Boris Becker! Ich traute mich in diesen Tagen schon gar nicht mehr, eine Konservendose aufzumachen.“
Es ist nicht zu übersehen, wie gut ihm diese zwei Wochen in Wimbledon tun. Überall Anerkennung, überall Bewunderung, kaum kritische Fragen; Heimspiel auf einem immergrünen Centre Court. Steuerprozess? Rosenkrieg? Firmenpleiten und Flops? Alberne Show-Spielchen im deutschen Fernsehen und Seniorentennis in Quakenbrück? Keine Rede von all dem, allenfalls in Nebensätzen. Wer Beckers kurvenreichen Weg als Geschäftsmann in den sechs Jahren seit seinem letzten Spiel auf dem Rasen verfolgt hat, der begreift doppelt gut, warum er sagt: „Wimbledon ist für mich der Höhepunkt des Jahres. Das war während der Hälfte meines Lebens so, und ich freue mich jedes Mal wieder darauf“.
Gelegentlich sitzt Noah Gabriel, 11, der ältere der beiden Söhne, während der Spiele auf der Tribüne, manchmal versammelt sich die ganze Familie Becker mit Mutter Elvira, der ehemaligen Ehefrau Barbara und dem zweiten Sohn, Elias Balthasar, 5, und irgendwann wird bestimmt auch die ein Jahr jüngere Tochter Anna kommen. Über dieses Kind aus der Wäschekammer, gezeugt am Abend des letzten Spiels seiner Profikarriere, redet er inzwischen ohne Scheu. Versichert, Anna gehöre dazu. So wie alles, was in der Zeit seit jenem denkwürdigen ersten Sonntag im Juli 85 passiert ist.
Was wäre wohl geschehen, wenn er damals an einem heißen Sommertag mit 17 nicht den Titel gewonnen hätte? Wenn er das Finale gar nicht erreicht hätte, was sehr leicht möglich war. Dritte Runde gegen den Schweden Joakim Nyström – eine fast aussichtslose Sache, in der vierten gegen den Amerikaner Tim Mayotte wieder fünf Sätze, ein über Nacht vertagtes Halbfinale gegen Anders Jarryd, den zweiten Schweden. Beckers ehemaliger Trainer Günther Bosch hat mal gesagt, er habe nie begriffen, woher der junge Boris die innere Kraft genommen habe, das durchzustehen. Bosch hatte früher als alle anderen Feuer an Beckers Leidenschaft gefangen. Als der Junge mit seinem Trainer und seinem rumänischen Manager Ion Tiriac am Abend vor dem Finale zu Fuß auf dem Weg aus einem Restaurant zurück ins Hotel war, tänzelte er über das Pflaster. Holte zu Vorhand und Rückhand aus, rollte mit der rechten Schulter, als bereite er sich auf den entscheidenden Aufschlag vor. Ein rothaariger Junge aus der deutschen Provinz, mit den Füßen noch im alten Leben, mit dem Herzen schon im neuen. Aus dieser imaginären Welt tauchte er am nächsten Tag um 17.26 Uhr nach dem Matchball im Finale gegen den Südafrikaner Kevin Curren wieder auf. Staunend, glücklich, stolz; auf einmal und für lange Zeit der Mann für die großen Emotionen. Heute sagt er, das alles sei sicher nicht ohne Grund passiert, aber natürlich sei dieser Sieg viel zu früh gekommen. „Vielleicht wäre ich ein besserer Spieler geworden, wenn ich 85 nicht den Titel gewonnen hätte, sondern erst ein Jahr später.“ Ein Jahr später, mit 18, wäre er immer noch der jüngste Sieger in der großen Geschichte Wimbledons gewesen, und vielleicht hätte er eine Chance gehabt, nicht nur sein Spiel zu polieren, sondern sich und seine Rolle im Irrsinn der weltweiten Beckermanie ein bisschen besser zu verstehen.
In den Wochen nach dem ersten Wimbledonsieg brach die Begeisterung der Massen bis hin zu den höchsten Repräsentanten des Staates mit Donnerknall und Hagelschlag über den naiven wie neugierigen Jungen herein. Und auch die Medienmaschine entwickelte eine bis dato im deutschen Sport unbekannte Hysterie. Aber es waren weiß Gott nicht nur Fremde, die an der Spirale drehten; nach dem Sieg in Wimbledon 85 verlangte Manager Tiriac sechsstellige Summen für eine Stunde Exklusivinterview mit dem Teenager. Und er verlangte nicht vergebens.
Muss man da nicht glauben, man habe die Menschen wie Marionetten in der Hand? Und wie soll man begreifen, was falsch ist, wenn diese Marionetten selbst bei schlechter Behandlung noch freundlich mit den Köpfen nicken? Dieser Tage wurde Becker im Fernsehstudio der BBC gefragt, wie die Landsleute daheim in all den Jahren mit ihm umgegangen seien. „Man hat mich gefeiert, als ich oben war, und mir auf dem Kopf rumgetrampelt, als ich unten lag“, hat er gesagt. Dabei vergaß er freilich zu erwähnen, dass er selbst den Ruf hat, recht wankelmütig zu sein. Dass er keine fremden Götter duldet neben sich. Der jugendliche Held hatte keine Ahnung, nach welchen Gesetzen das Wechselspiel zwischen dem „Wir sind verrückt nach dir“ und dem „Nicht der schon wieder“ funktioniert. Inzwischen hat er begriffen: „Mittelmäßigkeit ist die schlechteste aller Geschichten.“ Man könnte meinen, in all den Jahren habe er sich besonders engagiert bemüht, dieser langweiligen Mitte zu entgehen.
Was er zu sagen hatte, wenn er sich die Zeit nahm, wirkte von Anfang an nicht immer ganz ausgegoren, aber spannend war es auch damals schon. Heute redet er am liebsten mit den englischen Freunden. Na ja, einem Blatt aus der Heimat hätte er im Gegensatz zur Sunday Times sicher nur schwer erklären können, er sei in Deutschland ein unglaublicher Held, und Deutschland brauche Helden mehr als jedes andere Land.
In London fühlt er sich wohl, auch in Miami als regelmäßiger Besucher der geschiedenen Frau und der Söhne, mittlerweile auch im Schweizer Steuerparadies Zug, wo der Sitz seiner Firma „Boris Becker und Co.“ ist und er eigentlich lebt. „Ich bin immer gern in Deutschland“, hat er gerade gesagt, „aber ich könnte da nicht mehr leben.“
Anonym kann er nirgendwo mehr sein. Als Spieler hat er diesen Zustand irgendwann akzeptiert, fürs Geschäft ist er ausgesprochen nützlich, im Privaten ist er lästig. Notfalls kann er immer noch auf ein Dach steigen und die Menschheit von oben betrachten. In Wimbledon jedes Jahr wieder.