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Archiv-Artikel

Vor der biopolitischen Pfandleihanstalt

GROSSES THEATER Christoph Marthaler inszeniert Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ bei den Wiener Festwochen

Aus der Karriere als Germany's Next Top Body wird dann doch nichts, der Präparator weist die Heldin ab

Was der Wert des Menschen ist? Elisabeth, die arbeitslose Wäschevertreterin, hat präzise Vorstellungen: 150 Mark. So viel kostet der Gewerbeschein, der es ihr erlaubt, Selbsterhaltung auf eigene Rechnung zu betreiben. Nochmals 150 Mark werden für die Geldstrafe fällig, es ohne behördliche Befugnis schon probiert zu haben. Der Staat als Hüter wirtschaftlicher Freiheiten kassiert gleich doppelt bei denen, die ohne Arg und ohne Mittel sind. Und auch Christoph Marthaler hat in seiner Inszenierung von Ödön von Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ bei den Wiener Festwochen im Wiener Museumsquartier die Elisabeth mit Olivia Grigolli und Sasha Rau gleich verdoppelt. Der mitfühlende Einstieg in die Geschichte über die Perspektive einer Protagonistin verirrt sich sogleich in deren Spiegelbild. Das Einzelne ist nichts Individuelles mehr, vielmehr das Muster einer Serie, die die Mechanik der Verhältnisse stetig hervorbringt. Was mal Schicksal war, ist keineswegs zwingend, im Bestehenden aber kaum vermeidlich. Ein Gerücht unter Arbeitslosen vermeldet, dass die Körperspende in der Anatomie vorab schon ebenjene 150 Mark einbringt. So steht Elisabeth gleich zweimal an vor dem Institut, das sie für eine Art biopolitische Pfandleihanstalt hält.

Anna Viebrock hat alle Schauplätze vor einer Front aus schäbigen goldgelb eloxierten Aluminiumrahmenfenstern und -türen versammelt. Ob Anatomie, Sozialamt oder Polizeistation, die Architektur der Repression spricht eine Sprache zu allen Inhalten. Aus der Karriere als Germany's Next Top Body wird dann doch nichts, der Präparator (Jean-Pierre Cornu) weist Elisabeth ab, nicht ohne ein beiläufiges Interesse am zeitweiligen Erwerb des lebenden Körpers anzudeuten. Ein Polizeibeamter (Ueli Jäggi), der den Hafen der Ehe in Aussicht stellt, erhält den Kontrakt. Ein „kleiner Totentanz in fünf Bildern“, so Horváths Untertitel, muss weitergehen. Das ist hier nicht nur Metapher. Schon im Auftritt der beiden Elisabeths lassen erste Takte von Alban Bergs „Dem Andenken eines Engels“ keine Zweifel an der wirtschaftlichen, sozialen und physischen Vernichtung der Protagonistin.

Marthalers Umgang mit der Musik im Schauspiel hat sich verändert. War das, was die sentimentale Hausapotheke von Schubert bis zur Kulturindustrie bietet, bisher oft dramaturgisch pointierte Nummer, wachsen die Klangzitate hier zu einem weit komplexeren Gebilde zusammen, einer Art von musikalischem Essay, der den Abend mitdenkt und von Clemens Sienknecht nicht nur am Piano klug begleitet wird.

Zunächst versucht Elisabeth noch die Büstenhalter, Korsette und Strapse an die Frau zu bringen. Doch die Aufrüstungs- und Zurichtungsinstrumente für den weiblichen Körper gehören nicht gerade zu den systemrelevanten Branchen. Spielzeug zum Drunterziehen scheint in Krisenzeiten eher verzichtbar. Da ist die Frau Amtsgerichtsrat (Irm Hermann), die das Ganze beim Kaffeeklatsch an ihresgleichen vertreibt, weit erfolgreicher.

Tanz der Zombies

Das mit dem Totentanz nehmen Irm Hermann und Josef Ostendorf als Frau und Herr Amtsgerichtsrat beim Wort, sie stürzen in leichten Schritten aufeinander zu bis in die ungelenke gierige Verklammerung, aus der sich Irm Hermann schließlich losreißt, sich ohne Wort nur kurz schüttelt und mit dieser knappen Geste Jahrzehnte zwangsmonogamen Elends abzuwerfen scheint. Marthaler hat aus Horváths Sätzen noch das letzte psychologische Bindemittel entfernt. Wirtschaft als irrationaler Selbstzweck und gesellschaftliche Repression bringen nur noch Zombies hervor. Ein großartiges Ensemble wirft die Sätze ohne menschelnde Verstellung geradewegs auf die Bühne, wo sie auf halbem Weg unversöhnt ausklingen. Es gibt einige Buhs zur Pause von denen, die in Wien glauben, die Sprache Horváths in der Wiege oder schlimmer noch im Blut zu haben. Marthaler ist nicht mehr nett, und das ist gut so.UWE MATTHEISS