„Da muss das Volk kein Mitleid haben“

MASKEN Die Fotografin Herlinde Koelbl über Angela Merkels Schönheit, animalische Körperbehaarung, Leni Riefenstahls Verbitterung und Spuren der Macht

■ Geboren: 31. Oktober 1939 in Lindau am Bodensee. Sie lebt und arbeitet als Fotografin in Neuried bei München.

■ Werdegang: Die gelernte Modedesignerin wechselte erst 1976 als Autodidaktin zur Fotografie. Bekannt wurde sie durch ihre Konzeptarbeiten, zum Beispiel „Das deutsche Wohnzimmer“, „Männer“ und „Jüdische Porträts“

■ Ausstellung: Ihre erste Werkschau, „Fotografien 1976–2009“, ist noch bis zum 1. November im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Der Eintritt kostet 8 Euro, ermäßigt 6 Euro.

■ Katalog: „Herlinde Koelbl – Mein Blick“, Steidl Verlag, Göttingen, 2009 (20 Euro)

INTERVIEW MARTIN REICHERT

taz: Frau Koelbl, würden Sie mir bitte den Bildband zu Ihrer Werkschau „Mein Blick“ signieren? Ich bin Fan.

Herlinde Koelbl: Das ist schön!

Ihre Ausstellung, eine Werkschau mit Fotografien von 1976 bis heute, hauptsächlich Porträts, war berührend.

Das haben mir viele Menschen gesagt, die die Ausstellung besucht haben. Dass sie berührt waren. Und das ist ein ganz großes Geschenk, das finde ich wunderbar. Es ist etwas in den Bildern, das andere Menschen erreicht, sie vielleicht nicht verändert, aber anspricht. Das ist unser Leben, mit allen Ups and Downs, Abgründen und Freuden.

Existenziell?

Ja, das ist das, was ich immer suche, das Existenzielle: Was liegt eigentlich darunter?

Darum ging es auch bei den „Spuren der Macht“, da haben Sie unter anderem Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Angela Merkel über Jahre begleitet und porträtiert.

Es ist immer eine Suche.

Sie sagen, Politiker tragen Masken?

Angela Merkel hat schon 1994 gesagt, dass sie lernen müsse, zu pokern, damit man ihr nicht jedes Gefühl an der Nasenspitze ansieht. Sie müssen sich eine Maske zulegen, wenn sie in der Politik dabei sein und zugleich überleben wollen. Sobald sie in Spitzenämtern sind, haben sie fast kein privates Leben mehr, alles ist öffentlich. Der Schweißfleck unter den Armen wird besprochen, das Dekolletee, ob sie einen langen oder kurzen Rock tragen. Alles wird bewertet. Bei den Männern ist es nicht ganz so, sie sind durch ihre Anzüge relativ gut geschützt.

Das sind Uniformen?

Ja, und die schützen sie.

Warum tun die Leute sich das an?

Es ist eine große Bestätigung für das Ego. Aber ich glaube, in der ganzen Breite bedenken sie diese Konsequenzen zunächst nicht, es ist ein Lernprozess. Dieses in der Öffentlichkeit sein, sich nicht alles anmerken lassen – da legt man sich dann eine Maske zu. Wenn ich Ihnen jetzt etwas sage, von dem ich schätze, dass es Sie verletzen wird, und ich sehe, dass ich Sie getroffen habe – dann hätte ich eine wunde Stelle, an der ich schrauben kann.

Machen Sie das bei Ihren Porträts auch so?

Nein. Mir geht es ja nicht darum, Menschen zu beschädigen oder an den Pranger zu stellen.

Außer einmal, da haben Sie die Serie „Feine Leute“ aus den oberen Rängen der Gesellschaft fotografiert, die kamen nicht gut weg. Da waren Sie böse.

So würde ich es nicht sagen. Es ist ein anderer Blick. Es waren öffentliche Anlässe, bei denen auch immer ganz viele Pressefotografen waren. Ich wollte die Rituale, die Körpersprache dieser Gesellschaft zeigen.

Angela Merkel hat zugegeben, dass sie sich Ihrem Langzeitblick auch aus Eitelkeit ausgeliefert hat.

Das war doch sehr offen von ihr, charmant. Am Anfang fand sie das Projekt lästig und dann eben doch interessant.

War nie jemand dabei, der keine Lust mehr hatte?

Nein. Es hat verschiedene Gründe, warum niemand von Bord gegangen ist. Es ist wie bei vielen von uns: Man ist immer im Getriebe und setzt sich nicht wirklich hin, um zu reflektieren. Und dann komme ich und frage: Was ist geschehen? Ich bin jemand, der in einer ruhigen und klaren Weise nachfragt und sie so zum Reflektieren bringt.

Das hat fast was Therapeutisches.

Vielleicht. Aber so weit würde ich nicht gehen. Man muss sich Gedanken machen, nachdenken: Was war da eigentlich? Ich wollte eine Entwicklung dieser Menschen aufzeigen.

Menschen lieben es, in den Spiegel zu schauen, aber wie sie wirklich auf andere Menschen wirken, werden sie nie erfahren.

Henning Schulte-Noelle von der Allianz, den ich auch porträtiert habe, hat mir genau das gesagt: Es war wie eine Spiegelung.

Ist das narzisstisch?

Menschlich. Und man sucht ein Echo. Wenn jemand eitel ist, dann versucht er sich besser darzustellen, spreizt sein Gefieder. Aber das haben sie nicht getan. Es war ihnen willkommen, sich selbst reflektieren zu müssen.

Wenn man Ihre Bilder anschaut, dann hat man den Eindruck, bei Schröder haben Verwüstungen stattgefunden, aber Frau Merkel hat eher gewonnen.

Sie hat gewonnen, ja. Gerhard Schröder sagte einmal: Manchmal ist es auch gut, wenn man manches verdrängt. Die Frauen haben viel stärker reflektiert, was mit ihnen passiert. Manche Männer wurschteln sich so durch, wie im restlichen Leben, sie bekommen die Zähne nicht auseinander, verdrängen. Sie wollen über Emotionales nicht nachdenken. Männer lieben den Wettbewerb, den Hahnenkampf. Frauen nicht so, oder verdeckter.

Und wie verhält es sich bei Frau Merkel?

Sie schaut genau, wie die Gockel sich verhalten. Die Welt hat zur Kenntnis genommen, dass Gerhard Schröder seinerzeit am Gitter des Kanzleramts gerüttelt hat: „Ich will da rein“ – darüber wurde geschrieben, geschmunzelt. Aber das ist was Männliches. Wenn Angela Merkel das gemacht hätte, dann hätte sich alle Welt über sie lustig gemacht.

Stattdessen hat sie nicht gerüttelt, sondern war einfach irgendwann drin. Und im Moment hat man auch wieder den Eindruck: Es steht gar nicht zur Entscheidung, ob sie wieder Kanzlerin wird. Das ist einfach so.

Ja, das war doch interessant, dass Obama zu ihr gesagt hat, dass sie doch entspannt sein könne, weil sie eh gewinnt. Dass die CDU/CSU die stärkste Partei sein wird, ist doch sehr wahrscheinlich. Aber es ist die Frage, wer gewinnt und wer verliert bei den anderen Parteien.

Und wie lautet Ihre Prognose? Wer wird gewinnen, wer verlieren?

Das kann ich nicht sagen. Ich glaube, viele werden noch an der Wahlurne, in letzter Minute entscheiden, ob sie FDP, SPD oder Grüne wählen. Aber entscheidend ist die Frage: Wen wähle ich als Gegenpol zur Union?

Wen wählen Sie denn zur Bundestagswahl am 27. September – oder spricht man darüber nicht?

Das sage ich nicht.

Aber den Unterschied in der Frage haben Sie gehört: Spricht man darüber nicht oder Sie nicht?

Das ist meine persönliche F…, Sache, darüber spreche ich nicht.

Habe ich da gerade mit Freud Fassade gehört, oder habe ich mir das eingebildet?

Das ist meine Freiheit. Sie haben das falsch interpretiert. Nein, ich habe keine Fassade. Ich finde es wichtig, dass man man selbst ist.

Ja, aber wir drehen gerade den Spieß um. Die Porträtistin wird porträtiert.

Ich habe es schon lieber auf der anderen Seite.

Schon, nicht?

Ja, sonst hätte ich das anders gewählt. Ich stehe ja ganz bewusst hinter der Kamera. Schauspieler, Moderatoren, die müssen das lieben, vor der Kamera zu stehen. Nur dann sind sie gut.

Gut, reden wir wieder über Angela Merkel: Die freut sich mittlerweile richtig, wenn sie was sagt und die Leute lachen oder applaudieren.

Das hatte sie eigentlich nie. Sie ist nicht eitel, und das hat ihr geholfen. Das ist ein Grundzug von ihr – ist das eigentlich ein Porträt oder ein Frage-Antwort-Interview?

Ein Interview, Sie bekommen das zur Autorisierung.

Prima. Nein, sie ist nicht eitel, und das hat ihr immer geholfen. Und diese öffentliche Welt ist natürlich eine Welt der Eitelkeiten.

Sie ist am Ende doch zu Udo Walz und zur Maskenbildnerin gegangen.

Irgendwann mal, aber sehr spät.

Sie war stur?

Ja, das hat sie einfach nicht interessiert, und es war nicht wichtig.

Am Anfang hat man immer nur hässliche Fotos von ihr gezeigt, aber dann schienen sich plötzlich alle einig: Von nun an ist Frau Merkel schön.

Das ist das Spiel der Medien. Es war offensichtlich, wie sich die Bilder von Angela Merkel in den Zeitungen plötzlich gewandelt haben. Man hätte fast denken können, sie war beim Schönheitschirurgen. Vorher gab es immer nur Hängefalten.

Die gibt es auch immer noch, es ist eine Frage der Auswahl, oder?

Ja, denn ihr Gesicht hat sich ja nicht grundsätzlich geändert. Die Frage ist: Was wird ausgewählt? Was wird lanciert? Was wollen die Medien bezwecken?

Frau Merkel steuert aber auch dagegen, sie beißt nicht mal mehr in eine Bratwurst, der Bilder wegen. Als Volk muss man sich ja fast schon schämen, was man den Politikern antut.

Das würde ich so nicht sagen. Es ist ja eine Wahl, die die Menschen treffen, Politiker zu werden oder in höchste Ämter zu streben. Da muss das Volk kein Mitleid haben. Ob Frau Merkel öffentlich in eine Bratwurst beißt oder nicht, ist nicht so wichtig. Aber entscheidend ist, ob ein Politiker gezielt zerstört oder diffamiert werden soll. Da gibt es eine eindeutige Grenze.

Angela Merkel sagte Ihnen am Anfang des Langzeitprojekts „Spuren der Macht“, noch in den Neunzigern, dass sie Angst habe, aus dem Ganzen demoliert, beschädigt herauszugehen.

Darüber würde sie heute nicht mehr sprechen. Am Anfang, so erzählte sie mir, gab es für sie Dinge in der Politik, die sie verletzt haben. Je schwieriger die Aufgaben und die Gegner wurden, desto größer wurden die Verletzungen. Ihr Maßstab dafür habe sich verändert. Aber verletzbar bleibe sie immer.

Manche Menschen wenden sich dann im Ergebnis ganz von den Menschen ab – Leni Riefenstahl hat am Ende auch nur noch Fische fotografiert.

Ja, sie wollte was anderes machen, und Nuba-Stämme gab es auch nicht mehr zu entdecken.

Na ja, sie hatte keine Lust mehr auf Menschen, war womöglich verbittert.

Wahrscheinlich war sie verbittert.

Bei Ihnen ist das anders?

Die Zugewandtheit ist mir immer geblieben.

Können Sie Riefenstahls Werk von ihrer Biografie trennen?

Nein. In Amerika wird das gemacht, dort sieht man ihr Werk, und das wird sehr geschätzt. Wenn man nur ihr Werk betrachtet: Es war für die damalige Zeit außergewöhnlich. Seltsam ist nur, dass sie so dermaßen die Zusammenhänge verdrängt hat. Und nie an der Richtigkeit gezweifelt hat.

Sie haben „Spuren der Macht“ gemacht, Riefenstahl hat die Macht inszeniert. Aber Sie haben ja durchaus auch Macht: Sie dürfen Ihre Spuren zeigen.

Ich sehe das überhaupt nicht als Macht. Wenn ich meine Arbeit als Macht sehen würde, könnte ich nicht so arbeiten, wie ich arbeite. Es gehört sogar ein Stück Demut dazu und das Zugewandte. Wichtig ist der Respekt vor Menschen, ganz gleich, ob sie berühmt oder mächtig sind.

Ihre Arbeiten hängen im Museum, derzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau, Sie sind international anerkannt und nicht irgendeine Pressefotografin, die von der Nähe zu Politikern abhängig ist.

Ich habe immer konzeptionell gearbeitet, von Anfang an. Die Konzeptarbeit, das war damals noch relativ neu. Wenn Sie journalistisch arbeiten, muss es dekorativer werden, Sie brauchen Eyecatcher, und nach kurzer Zeit geht man wieder. Aber wenn ich zwei Jahre Wohnzimmer fotografiere oder fünf Jahre an dem Projekt „Jüdische Porträts“ arbeite, muss ich mir ein Thema erschließen, viel dazu lesen. Und manchmal ergänze ich Bilder mit Texten. Das ist für mich das Spannende. Ich kann meinen eigenen Horizont erweitern.

Mit der Kamera vor der Nase, das ist doch eine sehr distanzierte Art der Weltaneignung?

Es geht eher um Durchdringung.

Aber ein Objektiv zwischen Ihnen und der Welt, das ist doch Distanz.

Das würde ich so nicht sagen, ich arbeite zum Beispiel nie mit langen Brennweiten, von Anfang an nicht. Wenn ich mit langen Brennweiten arbeite, kann ich meine Distanz bewahren, mein Gegenüber auch. Es muss aber eine Nähe entstehen. Viele Fotografen entscheiden sich für Stills oder Sachfotografie, weil sie eine Scheu vor Menschen haben.

Andererseits fotografieren sich die Leute ja jetzt ohnehin alle selbst. Es gibt einen Trend zur Selbstdigitalisierung. Leute fotografieren ihr Essen und stellen das dann in den Blog.

Neulich hat eine Frau im Kreißsaal entbunden und dann sofort im Netz ihre Wehen beschrieben. Das ist extrem exhibitionistisch. Diese Form der Selbstdarstellung ist mir fremd. Und das wird einigen Leuten auch noch auf die Füße fallen. Was die da alles ins Netz stellen. Und in einer entindividualisierten Welt ist das eine Möglichkeit, sich darzustellen. Es ist ja auch zugleich eine vereinsamte Welt, und mit der Herstellung von Öffentlichkeit glaubt man dann, diese überwinden zu können …

Und da sind wir dann wieder bei der Zugewandtheit.

Ja, die fehlt.

Man muss sich selbst fotografieren, um zu sehen, dass es einen noch gibt, um sich spüren zu können.

Oder dass es einen noch gibt, und wenn ich das dann ins Internet stelle und andere reagieren darauf, dann bekomme ich auch Aufmerksamkeit, Zuwendung – nicht jedoch Zuneigung.

Als Sie mit Ihrer Arbeit begannen, gab es das in der Form noch nicht. Werden Sie nicht überflüssig, wenn jetzt alle Welt fotografiert – inklusive sich selbst?

Heute kann jeder mit einer Digitalkamera ein Bild machen. Die Frage ist: Was ist ein Bild? Ich habe auch eine Digitalausrüstung. Aber je nach Thema oder Auftrag arbeite ich mit meiner Hasselblad-Mittelformat-Kamera oder digital. Aber ich sehe diese Sache relativ gelassen: Sie können auf den Auslöser drücken, aber entscheidend ist das Sehen. Was nehme ich wahr? Wie z. B. bei den „Spuren der Macht“, einen bestimmten Ausdruck der Persönlichkeit. Es ist ja auch ein Konzept, eine Idee dabei.

Ohne Denken geht es nicht?

Genau. Das ist der Unterschied.

Sie sind 1939 geboren und auf einem Bauernhof aufgewachsen. Danach sind Sie einfach in die große, weite Welt spaziert. Durften Sie das?

Ja, ich durfte das. Aber ich musste früh meinen eigenen Weg gehen, mich um mich kümmern. Man muss etwas tun, man muss säen, um später eine Ernte zu haben. Sonst wird das nichts. Das war in meinem Leben immer präsent.

Damals lautete die Parole für Frauen: Karriere oder Kinder.

„Was die Menschen alles ins Netz stellen! In einer entindividualisierten Welt ist das eine Möglichkeit sich darzustellen“ „Es ist zugleich eine vereinsamte Welt, und mit der Herstellung von Öffentlichkeit glaubt man dann, diese überwinden zu können“

Ich bin recht früh weggegangen, und die Modeschule in München. Die Haltung war: Für eine Frau ist das ja nicht so wichtig. Aber da war ich früh anders. Es ist eine Haltung: Nicht warten, selbst etwas tun. Die Fotografie habe ich als Autodidaktin begonnen. Ich kannte absolut niemanden aus der Welt der Medien und Künstler. Aber es war genau das, was ich tun wollte. Und ich habe das mit Leidenschaft gemacht, das ist das Entscheidende. Aber ohne Disziplin nützt Ihnen das auch wieder nichts. Eine Idee, Spuren der Macht, muss man auch durchführen.

Sie haben sich immer mit Tabus beschäftigt, dem Tod, dem Sterben, Sex, Körperbehaarung.

Sie haben auch welche!

Ist jetzt wieder modisch, weil alle ganz körperrasiert sind.

Ja, animalisch. Aber Sie haben Recht, ich war in Australien wegen einer Gastdozentur und kam in ein Geschäft mit einem ganzen Regal voller Körperenthaarungscreme für Männer. Aber ich habe all diese Themen nie als Tabus gesehen. Es waren Themen, mit denen ich mich beschäftig habe. Das bringt gar nichts, wenn Sie ein Tabu brechen wollen. Sie bekommen eine kurze Aufmerksamkeit, und das war es dann. Aber wenn Sie sagen, die Bilder in der Ausstellung haben Sie berührt – um an den Anfang zurückzukommen –, dann spüren Sie die Auseinandersetzung, die dahintersteht.

Sie müssen los. Wir sprachen über Selbstdigitalisierung: Hier um die Ecke ist ein Fotoautomat, gerade sehr beliebt bei jungen Leuten. Hätten Sie Lust, mit mir dahin zu fahren, dauert nur zwei Minuten.

Nein.

Herlinde Koelbl wird von einem Automaten fotografiert!

Nein …

Sie haben auch ein bisschen Selbstkontrolle, weil Sie ja in den Spiegel schauen können, während der Automat arbeitet.

Das stimmt, aber die Ära ist vorbei. Vor über zehn Jahren habe ich das immer gemacht, wenn ich in einer Stadt war – da gab es auch noch mehr von diesen Automaten –, über zwei, drei Jahre habe ich das getan, und dann war es wieder vorbei.

Wollen wir das nicht machen?

Nein.

Bitte!

Nein.

Sie dürfen sie autorisieren!

Nein.

Einen Fotografen durfte ich auch nicht mitbringen.

Ich stehe hinter der Kamera.

Ja, weil das nämlich gemein ist, wenn jemand kommt und einen ablichten will – womöglich mit der Absicht, einem die Maske runterzuziehen, nicht wahr?

Ich wollte mit Ihnen in Ruhe reden. Zudem lassen sich die meisten Fotografen nicht gerne fotografieren. Es ist auch eine Frage der Haltung. Ich bin ganz normal geblieben. Meine Mutter hat immer gesagt: Hoffart kommt vor dem Fall. Und ich denke, dass ist auch in meinem Kopf. Ich bin down to earth, das ist für mich wesentlich. Ich habe gelernt …

nicht hoffärtig zu sein, wie die Leute, die man fotografiert?

Bei den jüdischen Porträts habe ich die Geistesgrößen der Welt getroffen, Nobelpreisträger, und ich war zutiefst beeindruckt von der Haltung dieser Menschen. Erst mal, dass sie nicht gehasst haben, obwohl sie alle Angehörigen durch den Holocaust verloren haben. Es sind tiefe Freundschaften entstanden, unter anderem mit Josef Tal, Bruno Kreisky, scharf denkende, analytische Menschen, die immer kritisch waren, aber immer auch menschlich. Größe. Persönlichkeit. Und doch waren sie „normal“. Ich kam an, und wir haben zwei Stunden verbracht. Ich habe plötzlich einen anderen Maßstab bekommen. Und dafür bin ich dankbar.

Angela Merkel ist laut Forbes-Liste die mächtigste Frau der Welt.

Sie ist nicht gefürchtet, sondern anerkannt und respektiert. Das ist nicht so einfach in der politischen Machtwelt.

Zur Verabschiedung ihres Vorgängers Schröder gab es den großen Zapfenstreich – und Sinatras „My Way“. Er weinte.

Das kann ich verstehen. Das ist so ein großes Ritual, Nacht und Fackeln, Abschied. Vor Jahren habe ich einmal gesehen, wie ein Kommandeur verabschiedet wurde. Das Ritual ist ganz wichtig.

Inwiefern bitte?

Unsere Welt hat zu viele Rituale über Bord geworfen, und die Menschen haben Sehnsucht nach diesen Ritualen. Eine gewisse Form wird eingehalten. Es spielte ein Blasorchester, es ist eine spezielle Art Musik, und ich habe gesehen, wie der Kommandeur feuchte Augen bekommen hat, das war sehr beeindruckend. Da sind wir dann wieder beim Emotionalen: Wie Musik Menschen in verschiedene Stimmungen versetzt.

My Way, das ist existenziell.

Mein Weg, den sucht man doch das ganze Leben, nicht?

Martin Reichert, 36, ist sonntaz-Redakteur und lässt sich auch nicht gerne fotografieren. Als Mittel gegen akute Misanthropie empfiehlt er den Besuch von Herlinde Koelbls Werkschau in Berlin.