: „Eine riesige Zahl von Kindern in Not“
Kinderärzte werden vom Sonderausschuss Jessica befragt: Problem der Vernachlässigung nimmt zu. 30 Prozent mehr Fälle beim Kinder- und Jugendnotdienst. Wachsende Armut und der Zerfall sozialer Netze als Risikofaktoren ausgemacht
von Kaija Kutter
Bei der zweiten Sitzung des Sonderausschusses „Vernachlässigte Kinder“, der nach dem Hungertod der 7-jährigen Jessica installiert wurde, kamen am Mittwoch im Rathaus Kinderärzte und Jugendpsychiater zu Wort. Die Frage der Abgeordneten, ob denn das Problem der Kindesvernachlässigung zunehme, wurde von ihnen bejaht. „Es gibt eine riesige Zahl von Kindern in Not“, erklärte Professor Peter Riedesser vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).
Konkrete Zahlen legte Renate Hansen vom Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) vor. So stieg die Zahl der Kinder, die dort wegen Vernachlässigung aufgenommen wurden, von 251 im Jahr 2003 auf 364 im Jahr 2004; die Zahl der misshandelten Kinder von 287 auf 301. Zudem, so der Kinderarzt Michael Zinke, müsse bei Gewalt gegen Kinder mit einer Dunkelziffer von bis zu 50 Fällen pro bekannt gewordenem Fall gerechnet werden. Auch er sprach von einem gestiegenen Risiko, weil „25 Prozent der Kinder in sozialer Armut leben“.
Eine Zunahme von Vernachlässigungen attestierte auch Christa-Maria Ruf, die im Gesundheitsamt des Bezirks Mitte unter anderem die Mütterberatungsstellen leitet: „Wir stellen zunehmend fest, dass Eltern die Elternrolle nicht gelernt haben.“ Viele hätten selber in der Kindheit keine Liebe verspürt und könnten diese deshalb auch nicht weitergeben.
Riedesser, der Leiter der UKE-Klinik und Poliklinik für Kinderpsychiatrie und -psychotherapie, sprach von zwei gegenteiligen Entwicklungen unserer Gesellschaft. Einerseits sei noch nie eine „so große Sensibilität für Kinder vorhanden“ gewesen wie heute. Andererseits gebe es aber einen Zerfall von sozialen Netzen, wie Familien und Nachbarschaften. Wenn dann auch noch ein allein erziehender Elternteil „gestört“ sei, gebe es für das Kind „zu wenig kompetente Beziehungsangebote“. Damit die Kosten für zusätzliche Sozialarbeit nicht explodieren, plädiert Riedesser für eine radikal veränderte „beziehungsfreundliche“ Architektur, die beispielsweise Junge und Alte in gemeinsamen Innenhöfen einander näher bringt.
Riedessers Kollege Michael Schulte-Markwort von der UKE-Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik sprach sich für eine gezielte „Sekundärprävention“ aus, die eben jene Kinder erreicht, die „schon im Ansatz auffällig sind“. Denn von einer allgemeinen Primärprävention profitierten „nur die Starken“. Die Risikogruppen seien längst identifiziert: suchtkranke Eltern beispielsweise oder auch jene mit Lern- und geistiger Behinderung. Dass Armut zwar nicht alleinige Ursache, aber ein erheblicher Risikofaktor ist, darüber waren sich alle Experten einig.
Und auch darüber, die Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 zur Pflicht zu machen. Allerdings sollten Eltern nicht bestraft, sondern mit einem Bonus belohnt werden. Auch müsse, so die UKE-Ärztin Christiane Deneke, die emotionale Entwicklung der Kinder einen größeren Raum bei der Untersuchung einnehmen.
Kinderarzt Zinke warnte zudem vor einer „Lücke“ bei den Untersuchungen. So werden die Kinder zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr, wo sich schon viel abspiele, und auch zwischen dem 5. und 12. Lebensjahr nicht zur Vorsorge geladen. Anders sei dies bei Kindern von Privatpatienten. „Denen wird jedes Jahr eine Vorsorge bezahlt“, sagte Zinke und sprach von einer „Zwei-Klassen-Medizin“.