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Archiv-Artikel

„Wir sind doch kein Vieh“

ROMA In einem Waldstück südlich von Paris leben 30 Roma-Familien. Als die Polizei sie mit einen Stempel auf die Haut markiert, ist die Empörung in Frankreichs Politik groß

Roma in Frankreich

■ Zwischen 10.000 und 15.000 Roma aus Rumänien und Bulgarien leben seit etwa zehn Jahren in Frankreich – die meisten im Großraum Paris. Hier sind ihre Einnahmemöglichkeiten aus Betteln und aus Metromusik am besten. Oft leben sie in slumähnlichen Siedlungen. Häufig gehen Nachbargemeinden rechtlich gegen sie vor. ■ Zwar gilt seit dem 1. Januar 2007 für Staatsangehörige der neuen EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien die Freizügigkeit. Doch Paris hat eine „Übergangsfrist“ bis 2013 eingeführt. Auf dieser Grundlage hat Frankreich 2008 mehr als 8.000 Rumänen und Bulgaren abgeschoben. Nach der Abschiebung können sie jedoch problemlos wieder nach Frankreich einreisen.

VON DOROTHEA HAHN

Der Mann mit dem dunklen Schnauzbart und der Stirnglatze hebt beide Hände über den Kopf. Er winkt den Fremden zu, die auf der Landstraße gehen. „Kommt näher“, bedeutet seine Geste: näher an das Lager in dem bereits herbstfeuchten Wald, wo Dutzende von Wohnwagen dicht beieinander stehen. Aus Vorräumen aus Plastikplanen, Pressspan und Blech steigt Rauch auf. Es duftet nach gebratenem Schweinefleisch. An einem Ast baumelt ein Sack Kartoffeln. Eine Frau fegt den Erdboden mit einem Strohbesen. Von einem aufgebockten alten Renault sind die Reifen demontiert. Aus der Ferne wirkt das Areal in dem Waldstück 45 Kilometer südlich von Paris wie ein Campingplatz. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass fließendes Wasser, Strom, Telefonleitungen und andere Anschlüsse an die Gesellschaft fehlen.

Am frühen Morgen des 28. August – einem Freitag – haben Schläge auf die Wohnwagenwände die Bewohner des Lagers geweckt. Dazu laute Rufe: „Aufstehen!“ Und: „Kontrolle!“ Draußen warten Gendarmen. Verlangen Ausweise. Fragen die schlaftrunkenen Menschen, wie lange sie in Frankreich sind. Und drücken jedem einen Stempel auf Unterarm oder Handrücken.

Der Mann mit dem Schnauzbart, von Beruf Schrotthändler, zeigt auf die Außenseite seines linken Handrückens, von dem die Spuren der Markierung inzwischen verschwunden sind. „Hier haben sie den Stempel hingedrückt“, erzählt er, „es war ein blauer Stempel. Mit drei Strichen.“ Die Roma aus Rumänien haben unzählige Personenkontrollen erlebt. Manche haben Räumungen hinter sich, bei denen ihre Unterkünfte mit Bulldozern zerstört wurden. Andere sind bereits mehrfach aus Frankreich abgeschoben und in Charterflügen nach Rumänien transportiert worden. Doch mit feuchter Tinte, wie an jenem Freitagmorgen, sind sie noch nie behandelt worden. Die Gendarmen stempeln alle Roma ab. Bloß Babys und Kleinkinder nicht.

„Warum tun sie das?“, fragt in gebrochenem Französisch Olimpia. Sie hat ihren Strohbesen in den Waldboden gerammt und stützt sich darauf: „Wir sind doch kein Vieh.“ Zwei Wochen zuvor hatte einer ihrer Nachbarn just diese Frage an die Gendarmen gestellt. „Damit die Kollegen später wissen, dass wir euch schon kontrolliert haben“, lautete die Antwort.

Wie im Zweiten Weltkrieg

Die Kennzeichnung der Menschen wäre wohl eine zusätzliche Schikane in dem ohnehin schikanenreichen Leben der Roma aus Rumänien geblieben. Und niemand außerhalb ihrer Gemeinschaft hätte davon erfahren. Wenn nicht Yves Bouyer wäre, der zufällig zwei Tage später einen Besuch in der Siedlung im Wald macht. Der pensionierte Arbeiterpriester Bouyer erkennt sofort die schwere Symbolik. Er ist schockiert. Die Kennzeichnung erinnert den 77-Jährigen „an den Zweiten Weltkrieg“.

Zusammen mit seiner Bürgerinitiative Solidarité avec les familles roumaines, die den Familien humanitär und rechtlich zur Seite steht, wendet sich Bouyer an die Medien. Den Journalisten fällt es schwer zu glauben, dass eine solche Markierung tatsächlich stattgefunden hat. Doch bei der örtlichen Gendarmerie erfahren sie, die Methode sei „das praktischste Mittel, um zu vermeiden, dass dieselbe Person zweimal kontrolliert wird“.

Die Sache dringt bis in das Kabinett des Ministers für Immigration und nationale Identität vor. Eric Besson, dessen Ministerium sich sonst in Presseerklärungen – mit Zahlen und bunten Schaubildern – der erfolgreichen Abschiebung von „illegalen Ausländern“ rühmt, pfeift dieses Mal seine Gendarmen zurück. Am 7. September veröffentlicht er ein Kommuniqué: Das „Stempelsystem“ dürfe nur noch von Diskotheken benutzt werden, die sichergehen wollen, dass ihre Kunden bezahlt haben. Für „Kontrollen von Ausländern“ hingegen, so der Minister, sei das System „inopportun“. Besson nennt die Stempelung „unpassend“.

Die 30 Familien in dem Waldstück zwischen den beiden Gemeinden Corbeil-Essonnes und Ormoy stammen aus dem rumänischen Timișoara. Aber ihr Leben und das ihrer Kinder sehen sie in Frankreich. „Rumänien ist für uns die Hölle“, sagt der Schrotthändler mit dem Schnauzbart. „Für uns gibt es dort keine Arbeit, keine Schulen, keine Medizin“, ergänzt Olimpia, die Frau mit dem Strohbesen. „Ich bin Europäerin“, sagt sie, „ich bleibe.“

Seit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien in die EU am 1. Januar 2007 können die Staatsangehörigen beider Länder ungehindert nach Frankreich einreisen. Doch zugleich sieht eine Pariser Übergangsregelung bis 2013 vor, dass sie nur in Ausnahmefällen Arbeitsgenehmigungen und langfristige Aufenthaltsgenehmigungen erhalten. Wer diese Dokumente nicht hat, kann nach Ablauf von drei Monaten aus Frankreich abgeschoben werden – es sei denn, er weist nach, dass er die nötigen Mittel für seinen Lebensunterhalt hat.

Das Ministerium von Besson macht von dieser einfachen Abschiebemöglichkeit nach Rumänien und Bulgarien intensiven Gebrauch. Von den insgesamt 29.700 „illegalen Ausländern“, die im vergangenen Jahr abgeschoben worden sind, stammte ein Drittel aus Rumänien und Bulgarien. Ihre Aufenthaltsorte in Frankreich sind der Polizei bekannt. Sie braucht nur hinzugehen und die „Aufforderung zum Verlassen des Territoriums“ zu verteilen. Arbeiterpriester Bouyer nennt dieses Vorgehen mit einem bitteren Lächeln „die Statistik erfüllen“.

Auch mehrere Familien aus dem Lager im Wald sind schon abgeschoben worden. Die „Beihilfe für die freiwillige Rückkehr“ in Höhe von 300 Euro haben sie mitgenommen. Und anschließend unter anderem dafür verwendet, nach Frankreich zurückzukommen. Während ihrer Abwesenheit sagen die Nachbarn: „Sie sind zu Besuch in Rumänien.“

Manchmal in die Schule

„Natürlich wär es mir lieber, als Putzfrau zu arbeiten, als zu betteln“

Dass die Markierungen auf ihren Armen Schlagzeilen gemacht haben, erfahren die Menschen im Wald erst, als Journalisten vor ihren Wohnwagen auftauchen. Misstrauisch fragt ein junger Mann: „Was haben wir davon, dass wir mit Ihnen sprechen?“

Die 43-jährige Olimpia versucht, die Aufmerksamkeit für ihre Familie zu nutzen. Sie hat Timișoara mit Mann und Kindern schon im Jahr 2003 verlassen. Seither arbeitet das Elternpaar in der Pariser Metro. Sie bettelt. Er spielt Akkordeon. Die beiden Kinder, zehn und zwölf Jahre alt, gehen manchmal in die Schule. Manchmal nicht. Obwohl in Frankreich die Schulpflicht für alle gilt, lehnen gleich mehrere Gemeindebehörden ihre Einschulung ab. Mit Begründungen wie: „Ihr Kind ist nicht geimpft.“ Oder: „Sie haben keinen festen Wohnsitz.“

In ihren sechs Pariser Jahren hat Olimpia sowohl im Norden, als auch im Osten und im Süden gelebt. Sie kennt die französische Hauptstadt aus der Perspektive der Wellblechhütten am Rande von Industriezonen, der Parkplätze großer Einkaufszentren und der illegalen Siedlung im Wald. Immer wieder haben Bürgermeister oder Privatleute erfolgreich gegen die provisorischen Unterkünfte geklagt, in denen sie lebte. Immer wieder ist die Familie nach der Räumung umgezogen. In dem Waldstück zwischen Corbeil-Essonnes, wo auch sie Ende August gestempelt wurde, ist Olimpia erst vor zwei Monaten angekommen. Vorerst ist das Lager ein sicherer Ort: Im Hochsommer hat ein Gericht die Räumungsklagen der Bürgermeister der beiden Nachbargemeinden Corbeil-Essonnes und Ormoy abgewiesen.

In Olimipias Wohnwagen hängen blütenweiße Vorhänge am Fenster. Zwei breite Betten füllen den Hauptraum. Der Boden ist mit Teppich ausgelegt. Im Vorraum stehen Plastikbottiche. Das Wasser muss die Familie in Kanistern von der einen Kilometer entfernten Wasserstelle in Corbeil-Essonnes holen. „Natürlich möchte ich in einer richtigen Wohnung wohnen. Natürlich wäre es mir lieber, als Putzfrau zu arbeiten, als in der Metro zu betteln“, sagt Olimpia, „aber mich nimmt niemand.“

Viele Kinder leben in dem Lager. Die meisten – darunter der kleine Doran und Soltan – würden gerne in die Schule gehen. Aber nur ein einziges Kind hat es geschafft. Der neunjährige Emanuel lebt seit sieben Jahren in Frankreich. Er hat einen wachen Blick. Und spricht besser Französisch als die meisten Erwachsenen im Lager. Und vor allen Dingen hat er eine Oma, die bereit ist, Berge zu versetzen. Die kleine Frau, die einen großen, goldenen Jesuskopf als Halsschmuck trägt, ist immer wieder zu den Behörden gegangen. Schon vor Jahren hat sie dafür gesorgt, dass ihr kranker Mann in Frankreich Medikamente bekommt. Jetzt kommt ihre Hartnäckigkeit ihrem Enkel zugute.

An diesem Nachmittag, während die anderen Kinder seines Alters draußen über Pfützen springen, macht Emanuel seine Hausaufgaben in dem hellblauen Wohnwagen im Wald, den er mit Eltern und Großeltern teilt. Stolz zeigt er Schulhefte und Stifte. Aber auf einem Foto in einer Zeitung möchte er nicht erscheinen: Er hat Angst, dass seine Kameraden aus der Schule in Corbeil-Essonnes ihn erkennen könnten.