In finsteren Gefilden

Drogenabhängige Musikgenies, liberianischer Bürgerkrieg und allein erziehende Auftragskiller: Die Highlights internationaler Dokumentarfilme auf dem TV-Festival „Cologne Conference“

VON HARALD KELLER

Es wird viel geredet werden im Verlauf der 15. „Cologne Conference“, die sich im Untertitel als „TV & Film Festival“ erklärt. Themen wie „Good TV. Modernes Fernsehen und das Prinzip Verantwortung“ stehen auf der Tagesordnung, die „Adaption von Reality Formaten“ soll diskutiert werden, und es gilt, „Perspektiven für TV-Spartenkanäle“ zu entwickeln. Was über solche Spezialinteressen hinausweist, wird in den angeschlossenen Filmprogrammen verhandelt, etwa in der Reihe „Topten des internationalen Fernsehens“, die je zehn erzählende und dokumentarische Produktionen umfasst.

Letztere betrachtend verstärkt sich ein seit längerem schon schwelender Verdacht, wonach die abendfüllende Dokumentation für die Darstellung komplexer Sachverhalte unverzichtbar geworden ist. Die Schlaglichtberichterstattung der Hauptabendnachrichten reicht dafür schon lange nicht mehr aus. Erst ein Film wie „Liberia: An Uncivil War“ (USA 2004) hilft zu verstehen, was in dem westafrikanischen Land tatsächlich vor sich ging. Jonathan Stack und James Brabazon filmten unter lebensgefährlichen Bedingungen auf beiden Seiten der Front. Rebellen wie Regierungsmitglieder kommen zu Wort, vor allem aber jene, die ohne ihr Zutun in die teils völlig sinnlosen Kampfhandlungen verwickelt wurden.

Ein Thriller anderer Art ist Sylke Rene Meyers Pseudodokumentation „Nasse Sachen“ (D 2004). Die Autorin begleitet die allein erziehenden Mutter Kathleen (Kathleen Gallego Zapata), die sich, nachdem ihr die staatliche Unterstützung gestrichen wurde, mit Hilfe eines aus dem Internet bezogenen Lehrbuchs zur Auftragsmörderin weiterbildet, Kunden akquiriert und ihren ersten „Hit“ ausführt. Es entbehrt nicht der Komik, wenn die Anfängerin auf der heimischen Werkbank einen Schalldämpfer zu basteln versucht oder erst einmal eine Unterbringungsmöglichkeit für ihren kleinen Sohn finden muss, ehe sie zur Straftat schreiten kann. Eine in ruppigem Investigativlook gefilmte bittere Satire, die auf Hartz IV ff. nicht mit trüber Elendsbebilderung reagiert, sondern gewitzt die kriminogene Wirkung staatlicherseits aufgerissener Versorgungslücken aufzeigt.

Mit vollem Recht ist das Zehnerpack der „Cologne Conference“ nicht durchweg politisch ausgerichtet. Mit „The New Shock of the New“ (GB 2004) legt die BBC einen Streifzug durch die moderne Kunst vor, der Däne Jeppe Rønde porträtiert die südafrikanische Subkultur der „Swenkas“ (DK 2004), ausgemachte Dandys, die das Posieren zu einem Wettbewerbssport gemacht haben. Als besonders beeindruckend bleibt „DiG!“ (USA 2004) in Erinnerung. Neun Jahre lang hat Ondi Timoner die Bands The Brian Jonestown Massacre und The Dandy Warhols begleitet. Einst einte beide die Vorliebe für die Sechziger, für Velvet Underground, Doors, die psychedelische Phase der Rolling Stones. The Brian Jonestown Massacre hatten mit dem Multiinstrumentalisten Anton Newcombe ein wahres Genie in ihren Reihen. Aber Newcombe ist völlig unberechenbar, prügelt sich auf offener Bühne mit seinen Musikern, bricht Konzerte ab, düpiert Tourneeveranstalter und Plattenfirmen. Seine Heroinabhängigkeit macht die Sache nicht besser.

Unterdessen arbeiten sich die auch nicht eben abstinenten Dandy Warhols nach oben. Newcombe kündigt ihnen die Freundschaft und verhöhnt sie in seinen Songs. Am Ende sind die Warhols Headliner großer Festivals, The Brian Jonestown Massacre dagegen hat sich aufgelöst. „DiG!“ ist eine spannende Reise in finstere Gefilde des Rockgeschäfts und eine anschauliche Angelegenheit – nicht nur für aufstrebende Jungmusiker und verstiegene Popexegeten.

Die „Top Ten Nonfiction“: „Was lebst du?“ (D 2004); „Nasse Sachen“ (D 2004); „The New Shock of the New“ (GB 2004); „The Senkas“ (DK 2004); „Lomax the Songhunter“ (NL 2004); „DiG!“ (USA 2004); „Arakimentari“ (USA 2004); „Monster Road“ (USA 2004); „Liberia: An Uncivil War“ (USA 2004); „Weiße Raben – Alptraum Tschetschenien“ (D 2005)