: Wende-Chaos rechtfertigt Enteignung
Gerichtshof für Menschenrechte: Neubauern-Erben durften 1992 ohne Entschädigung enteignet werden
FREIBURG taz ■ Auf Straßburg kann sich die Bundesregierung derzeit verlassen. Erneut lehnte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gestern eine Klage gegen die Bundesrepublik ab, die Enteignungen in Ostdeutschland und erhebliche Entschädigungsforderungen betrifft. Nach den so genannten Alteigentümern, deren Klage auf höhere Entschädigung im März abgewiesen wurde, verloren nun überraschenderweise auch die Neubauern. Wegen der komplizierten Lage nach der Wiedervereinigung durfte die Bundesrepublik hier ausnahmsweise ohne Entschädigung enteignen, entschied gestern der EGMR.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der sowjetischen Besatzungszone Großgrundbesitzer und vermeintliche NS-Kollaborateure enteignet. Deren Land wurde im Rahmen der Bodenreform an so genannte Neubauern verteilt. Diese behielten das Eigentum zumindest formal auch noch, nachdem alle Bauern in LPG-Kollektive gepresst wurden. Als sich im März 1990 der Sozialismus dem Ende zuneigte, wurden die einstigen Beschränkungen des Eigentums im „Modrow-Gesetz“ aufgehoben. Die Neubauern und ihre Erben erhielten vollwertiges Eigentum.
Ausgerechnet unter Kanzler Helmut Kohl beseitigte der Bundestag zwei Jahre später dieses Eigentumsrecht in rund 70.000 Fällen entschädigungslos. Betroffen waren Erben der Neubauern, die nicht mehr in der Landwirtschaft tätig waren. Die Kohl-Regierung argumentierte, dass diese das formale Eigentum 1990 eigentlich nur durch Zufall – weil sich viele DDR-Behörden nicht für solche Fragen interessierten – inne hatten. Denn zu DDR-Zeiten konnte das Land entzogen werden, wenn Erben eines Neubauern es nicht weiter bewirtschafteten.
Der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht billigten diese nachträgliche Herstellung von DDR-Zuständen. Fünf der betroffenen Erben klagten anschließend beim EGMR in Straßburg, dem Gericht des Europarats, der die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention überwacht. Vor einem Jahr hatte die Klage in der ersten Instanz Erfolg: Zwar sei die Enteignung durch Gemeinwohlbelange gerechtfertigt, Deutschland müsse den Enteigneten aber eine Entschädigung in noch auszuhandelnder Höhe zahlen. Dagegen legte die Bundesregierung Rechtsmittel ein und gestern wendete sich das Blatt.
Die Große Kammer des EGMR entschied, dass Deutschland 1992 das Recht auf Eigentum nicht verletzt hat. Eine Entschädigung habe wegen der „außergewöhnlichen Umstände“ in der Wendezeit nicht gezahlt werden müssen. Die Eigentümer hätten auf das Modrow-Gesetz nicht vertrauen können, denn die Volkskammer sei zu diesem Zeitpunkt nicht demokratisch gewählt gewesen, und der Bundestag habe die vermeintlich ungerechten Folgen des Modrow-Gesetzes zwei Jahre später, also „in angemessener Zeit“, korrigiert.
Die Entscheidung gegen eine Entschädigung fiel mit elf zu sechs Richterstimmen. Der deutsche Richter Georg Ress kritisierte in einem Minderheitenvotum, dass Menschenrechte nicht unter Hinweis auf „außergewöhnliche Umstände“ außer Kraft gesetzt werden dürfen.
Justizministerin Zypries freute sich, dass nun endlich „Rechtssicherheit“ besteht. Die 100.000 Hektar Land im Wert von rund einer Milliarde Euro sind heute fast vollständig im Besitz der ostdeutschen Bundesländer.
CHRISTIAN RATH