War das jetzt ein historischer Moment

Schnapsideen, Käsebrötchen und Reformpolitik: Der Bundestag stimmt im Auftrag des Kanzlers für Neuwahlen im taz-Frühstücksfernsehen mit Hamburgs SPD-Fraktionschef Michael Neumann und GAL-Parteivize Jens Kerstan

Von Sven-Michael Veit

Michael Neumann langt über den Tisch zur Silberplatte, dann hält er inne: „Willst du noch das letzte Käsebrötchen?“ Jens Kerstan winkt ab: „Nimm ruhig. Ist eh alles Käse hier.“ Angela Merkel redet, die Kanzlerkandidatin der Union, und Kerstan gießt sich noch einen Tee ein: „Wieso soll ich der zuhören? Gibt ja eh Neuwahlen.“

Kanzler Schröder wirbt um Misstrauen, live im Frühstücksfernsehen mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Michael Neumann und Jens Kerstan, stellvertretender Parteichef der Hamburger Grünen und deren Direktkandidat im Bundestagswahlkreis Harburg-Bergedorf. Kanzler Schröder zieht die Parallele zur Vertrauensfrage Helmut Kohls 1982, und Kerstan verschluckt sich fast: „Kohl als Kronzeuge“, wundert er sich, „so weit sind wir schon gekommen.“

Die Kamera schwenkt übers Plenum im Reichstag. „Da“, sagt Neumann, „Ortwin und Uli klatschen“, als die Hamburger Alt-Bürgermeister Runde und Klose kurz zu sehen sind, die sich am Dienstag auf dem Landesparteitag noch gegenseitig die Spitzenkandidatur streitig machten und jetzt einträchtig Seit‘ an Seit‘ dem Kanzler Beifall zollen. „Krista klatscht nicht“, stellt Kerstan zufrieden fest, als auch die grüne Fraktionschefin Sager ins Bild kommt, die vorigen Samstag als Nummer 1 der GAL nominiert wurde.

Blockadepolitik im Bundesrat wirft Kanzler Schröder der CDU vor, und einträchtig klopfen Neumann und Kerstan mit den Knöcheln auf den Tisch in Neumanns Büro im Hamburger Rathaus. „Jetzt macht er Wahlkampf“, sagt der Grüne zum Roten, „wie soll man ihm da das Misstrauen aussprechen?“ Neumann grinst: „Nicht so kritisch, bitte, noch seid ihr mit in der Koalition.“ „Mhm“, brummelt Kerstan, „noch ‘ne Stunde oder so.“

Unaufgeregt schauen die beiden, die in Hamburg weitgehend einträchtig gemeinsame Opposition gegen den CDU-Senat machen, zu, wie sich die letzte rot-grüne Regierung dieser Republik im Bundestag abwählen lässt. Leidenschaft kommt da nicht auf, achselzuckend registrieren sie das Unvermeidliche, das sie eh nicht ändern können. Und nehmen gelegentlich Zuflucht in Ironie. „Wer ist das?“, fragt Neumann, als FDP-Chef Guido Westerwelle ans Rednerpult tritt. „Kenn‘ ich auch nicht“, antwortet Kerstan, „kann ich noch ‘n Tee haben?“ Der Gastgeber guckt besorgt: „Willst du dich betrinken?“

Franz Müntefering und Joschka Fischer ist es vorbehalten, Debattenstoff zu liefern. Er hoffe, nach der Wahl „die rot-grüne Koalition fortsetzen zu können“, sagt der Partei- und Fraktionschef der Bundes-SPD, und Kerstan sagt: „Ach! Kürzlich hat er uns doch noch zum Irrtum erklärt.“ Er solle nicht so kleinlich sein, rät Neumann: „Da ist unsere ausgestreckte Hand für die Fortsetzung der Reformpolitik, ergreif sie.“ Kerstan zuckt die Schultern: „Das war nicht unsere Schnapsidee mit den Neuwahlen.“ Schröder habe doch nach der Niederlage in Nordrhein-Westfalen gedacht, „dass er das Ding noch dreht“. Eine „Schwachsinnsstrategie“ sei das, und am Ende gebe es gar eine große Koalition mit Merkel und Müntefering. „Furchtbar“, sagt Neumann, „das wäre furchtbar.“

Inzwischen hat sich Joschka Fischer warmgeredet. Keinen Blick mehr wirft er auf sein Manuskript, er redet frei, er redet schnell und kraftvoll, der grüne Patriarch, er redet kämpferisch. „Er kann‘s noch“, frohlockt Kerstan, „und ich fürchtete schon, Joschka sei müde.“ Auch Neumann sieht und hört Fischer aufmerksam zu, stehende Ovationen erhält er von Grünen und von der SPD, und Neumann sagt: „Siehste, wir stehen auf für euch.“

Um 12.12 Uhr ist alles vorbei, Noch-Kanzler Schröder verlässt den Plenarsaal im Reichstag. „War das jetzt ein historischer Moment?“, murmelt Kerstan. Neumann zuckt die Schultern: „Das werden wir erst hinterher wissen.“