Alles beginnt mit einem Unfall

Die Praxis der Unfallversicherung und das Misstrauen in die Evolution: Mit Joseph Vogls schönem Vortrag über „Kafkas Komik“ endeten die Mosse-Lectures über Franz Kafka, bei dem der Tiefsinn fast immer von Unsinn umspült ist

Machtverhältnisse einstürzen zu lassen, das ist eine politische Komponente seiner Komik

Joseph Vogl ist Professor für Geschichte und Theorie Künstlicher Welten an der Bauhaus-Universität Weimar. Man kennt sein Gesicht aus Fernsehgesprächen mit Alexander Kluge, 20 Produktionen soll es von den beiden schon geben. Im Rahmen der öffentlichen Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität spricht er über „Kafkas Komik“.

Bei Kafka denken die wenigsten an Komik, ein grundlegendes Missverständnis. Kafka selbst soll sich beim Vorlesen vom „Prozeß“ immer wieder mit Lachkrämpfen unterbrochen haben. Es ist, wie er Fräulein Bürstner zu K. sagen lässt: „Sie sind ein unerträglicher Mensch, man weiß nie, ob Sie es ernst meinen oder im Spaß.“ Walter Benjamin hat als Erster auf das Attrappenhafte in Kafkas Werk hingewiesen, durch das Schmierentheatertypen mit angeklebten Bärten geistern, und wo Tiefsinn immer mit Unsinn umspült ist.

Von der Künstlernovelle bleibt bei ihm der Zirkusartist, vom Bildungsroman der Durchschnittstyp. Seine ganze Lebensanstrengung beschreibt er selbst als komisch: „Mein Ermatten ist das eines Gladiators nach dem Kampf, meine Arbeit die des Tünchens einer kleinen, weißen Stelle in einer Beamtenstube.“ Man darf unter Komik natürlich nicht die geistige Betäubung verstehen, als die sie heute dasteht, eine Art soziales Palliativum, das Revolutionen durch Unterhaltung vorbeugt. Sie ist vielmehr ein Phänomen der Selbstbeobachtung der Gesellschaft und enthält als solches ein radikal-kritisches Element.

Bei Kafka wimmelt es von Übersteigerungen, Verzerrungen, entkräfteten Machtverhältnisse, Stürzen in den Unsinn, Kollision von Wörtern und Dingen. Er war als Kinogänger ein großer Slapstick-Künstler. Überall finden sich nachäffende Bewegungen, Körper, die den Gesetzen der Ballistik folgen. Buster Keaton macht es vor, bei ihm wird das Öffnen einer Konservendose zu einer höllischen Turnübung, bei der der Held allein ist. Im Slapstick zeigt sich die Aufsässigkeit der Dinge. Als Student kennt man dieses Phänomen von den stets komischen Versuchen der Professoren, ihre Projektortechnik zu beherrschen.

Heidegger wird von Vogl aufgerufen, von dem man nicht geahnt hätte, dass er in „Sein und Zeit“ nebenbei eine Theorie des Slapstick geliefert hat: „In der Aufsässigkeit wird das Dasein in seiner ontischen Benommenheit gestört und an die Möglichkeit einer fundamentalen Ontologie erinnert.“

Ein zweites Element der Komik bei Kafka ist der Sturz von Gesetzmäßigkeiten und Urteilssystemen. Nietzsche kommt ins Spiel, sein radikal-historisches Verfahren der Historisierung von Gefühlen, Affekten, ethischen Prinzipien, die auf Naturalität zurückgeführt werden: „Es gibt Kulturen, die an Verdauungsproblemen zugrunde gegangen sind.“ Der Historiker besitzt für Nietzsche einen niederen Instinkt, er kennt nichts Großes, Aristokratisches mehr, hat Spaß am Widerlichen, macht keinen Unterschied zwischen großen Taten und niederen Dingen. Deshalb ist der historische Sinn ein Spezialsinn für den komischen Fall. Ein Paradebeispiel dafür bei Kafka ist der Affe in „Ein Bericht für eine Akademie“, der seine Evolution so beschreibt: „Alles begann mit einem Unfall“. Im Rahmen seiner Höherentwicklung zum Menschen lernt er als Erstes Schnaps trinken.

Bekannt ist Kafkas fehlender Sinn für Feierlichkeiten. Einmal musste er das Büro mit einem Lachanfall verlassen, der ihn bei der Einsetzung eines neuen Chefs schüttelte. Darin liegt auch eine politische Komponente seiner Komik, die Machtverhältnisse einstürzen lässt. Die Praxis in der Unfallversicherung zeigte ihm, dass Gesetze nicht mehr hinreichen, moderne Ökonomie zu beschreiben, wo Schicksale zu Unfällen werden, Verbrecher zu Schädlingen, wo statistische Berechnungen die Forschung nach Schuld und Unschuld ersetzen und das Leben sozialstatistisch verwaltet wird.

Aus den Stürzen von Leitern, dem Stolpern in Maschinen, dem allgemeinen, massenhaften Verunfallen in seinem Verwaltungsbezirk wird eine Art großes Gesellschaftsslapstickballett. Das Groteske ist also bei Kafka ein Mittel der historisch-politischen Analyse. Das Traurig-Tragische seiner Protagonisten liegt nicht darin, dass sie Erlösung nicht finden, sondern dass sie sie suchen. Als Einzige frei davon sind Tiere, Narren, kindliche Gehilfen, die die öden Kontinente von Gesetz und Schrift hinter sich gelassen oder nie gekannt haben. Ihnen gilt laut Joseph Vogl Kafkas Sympathie, sie sind Bewohner des Limbus, wo die Ungetauften leben. Den Weg dorthin weist ein wesenloses Lachen, das einen aus der Welt hinausbalanciert.

JOCHEN SCHMIDT