: Marco Polos Erzählungen
Bei der Biennale in Venedig sind erstmals mehrere Länder aus dem asiatischen Raum offiziell vertreten: die Volksrepublik China, Länder wie Kasachstan, Kirgisien, Usbekistan und auch Afghanistan. Im Mittelpunkt ihrer Beiträge stehen Fragen nach Selbstbestimmung und nationaler Identität. Ein Rundgang
VON HAJO SCHIFF
Eine gewisse museale Belanglosigkeit betonen fast alle Kritiken der Biennale in Venedig. Nun ist kaum eine andere Kunstveranstaltung so sehr ein Treff einer aus aller Welt eingeflogenen Partygesellschaft, für die in den Hauptausstellungen leichte oder bekannte Arbeiten ausgewählt wurden. Doch es gibt noch mehr, was sich mit Gewinn als Kommentar zur Lage der (Kunst-)Welt lesen lässt.
Am Partyvolk vorbei ging auch ein ungewollt amüsantes Statement zur globalen Machtverteilung: Die „Octopus“, die Großyacht des Microsoft-Mitbegründers Paul Allen lag mehrere Tage demonstrativ zwischen San Marco und San Giorgio und versperrte so einen der berühmtesten Touristenblicke. Nach zahlreichen Protesten musste das Schiff seinen Platz wechseln. Nicht dass nun spektakulär ein Monopol gebrochen wäre, aber es zeigt, welch kompliziertes Geflecht von Interessen diese Stadt mit den ohnehin verwirrenden Wegen beherrscht. Erst recht um die Biennale herum gibt es neben dem Einfluss der Privatsammler längst ein dezentrales System von Informationsflüssen, die sich nicht mit den traditionell euroamerikanischen Kanälen zufrieden geben.
Wohl nicht zufällig analog zu den Schwerpunktinteressen der Wirtschaft sind dieses Jahr aus dem asiatischen Raum mehrere Länder erstmals offiziell auf der Biennale vertreten: so die Volksrepublik China und Zentralasien mit Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan. Erstmals dabei auch Afghanistan mit einer Videodoppelprojektion zur Rolle der Frauen und weiteren Videos der allerdings in Los Angeles lebenden Lida Abdul und einem Teppichknüpfprojekt von Rahim Walizada, bei dem 30 Frauen alte Arbeitstechniken mit von ihm entworfenen neuen Kunstmustern verbinden. Dieser freundliche, aber nicht eben überwältigende Beitrag bekam den mit 20.000 Dollar dotierten, erstmalig verliehenen „Taiwan-Award“. Dabei handelt es sich um einen noch ganz unbekannten Preis, den das von der Volksrepublik China im Stande des Nationenparias gehaltene Taiwan ausgesetzt hat, „um seine Sicht der Kunst“ zu propagieren, einen Preis, der ausdrücklich die „Subjekt-Objekt-Beziehung in der Kunstbetrachtung umkehren“ soll. Zusammen mit den bei dieser Gelegenheit gehaltenen Reden über verletzten Respekt und die Notwendigkeit des Pluralismus drängt sich der Gedanke auf, ein Preis für einen kleinen Nachbarn auf der anderen Seite des großen China könne nicht zufällig sein. Steht doch schon die eigene Teilnahme plakativ unter dem riesig am Gefängnis neben dem Dogenpalast hängenden Motto „Freedom“, firmiert aber, um die strikte Ein-Land-Politik Pekings nicht zu brüskieren, wie seit dem ersten Auftritt 1995 nicht als Staat Taiwan, sondern nur als Schau des „Taipeh Museum for Fine Arts“.
Schon seit 2001 mit einem eigenen Pavillon vertreten ist Hongkong. Hier wird durchaus begrüßt, dass China gleich dreifach auftritt. Aber es wird auch klar gestellt, dass es sich bei den verschiedenen unterschiedlich organisierten politischen Gebilden schließlich um eine Nation handele. Hongkong zeigt zwei Arbeiten. Chan Yuk-keung begründet seine auf den Kopf gestellte Paraphrase des venezianischen Stadtmodells unter anderem mit der subjektiven Art des Reiseerlebens, für das ihm Marco Polo ein frühes Vorbild ist. Im anderen Raum hat der unter dem Pseudonym anothermountainman auftretende Wong Ping-pui eine Art Teehaus aus blau-weiß-rotem Plastik eingerichtet. Es ist ein Angebot zu möglichen Erzählungen über Kunst aus Asien mit Blick auf den Canal Grande und vielleicht auch Bekenntnis zu einer über das Private hinausgehenden, unbeschränkten Meinungsfreiheit, die im Sonderbereich Hongkong zwar noch gewährleistet, aber stets vom Festland her bedroht ist.
So beiläufig wie in den alten Nationenpavillons in den Giardini sind die Fragen nach Selbstbestimmung und nationaler Identität eben nicht überall. Auch im Palazzo Pisani, einem etwas derangierten Gebäude, in dem sich die Kunst von drei jungen zentralasiatischen Staaten findet, wird genau das zum Hauptthema vor allem für Fotos und Videoperformances. Stoisch erträgt es Erbossyn Meldibekov aus Kasachstan stundenlang geohrfeigt zu werden, und Alla Girik und Oksana Shatalova zeigen singende Frauen, die halb nackt in Schneehaufen stecken. Dazu bietet Sergei Maslow „Überlebensinstruktionen für Ex-UdSSR-Bürger“: Kasachstan als eine seltsame Welt, die ebenso gegen reale wie Imageprobleme anzukämpfen hat. Die Suche nach persönlicher und künstlerischer, ethnischer und nationaler Identität ist im vollen Gang, denn zurzeit sei nur der Ölpreis in Dollar das einzige Maß für die Identität, wie Valeria Ibraeva im Katalog provokant feststellt.
Nicht verwunderlich also, dass Alexander Nikolaev aus Usbekistan sich als Filmstar inszeniert und in Hollywood bei den Universal Studios bewirbt. Denn statt nach Moskau geht der Blick nun in die USA. Und nicht ganz zufällig sind auch Stiftungen des amerikanischen Spekulationsmilliardärs George Soros am Aufblühen der Kunst in Zentralasien beteiligt.
Kasachstan durchlebe gerade seine „blaue Periode“, behaupten Yelena Vorobyeva und Victor Vorobyev und belegen das mit einer Fotoserie, in der von der Werbung bis zum Mülleimer das sowjetische Rot im Alltag überall dem himmlischen Blau gewichen ist. Und das in einem Land, in dem die Kinder in einer Wiege aus Kalaschnikows geschaukelt wurden, wie es die Videoinstallation von Said Atabekov emblematisch macht. Aber schon drohen neue Gefahren: Der Autor, Maler, Installations- und Videokünstler Vyacheslav Akhunov aus Usbekistan probiert, wie Gebäudeecken seinen Geschichtskreis einschränken – und diese historischen Gebäude haben alle eine islamische Geschichte. Aber es ist ja nicht nötig, nun der Religion sklavisch zu verfallen, die Kasachin Almagul Menlibayena zeigt sich in einer Art Roadmovie in hexenhafter Verwandlung. Mal nackt, mal in bunten Tüchern nomadisiert ihre am ehesten mit „Punk-Schamanismus“ zu bezeichnende Videoperformance zwischen islamischen und buddhistischen Elementen.
Es ist paradox: Gegen die Entfremdung durch 70 Jahre Sowjet-Herrschaft wird sich auf alte Traditionen besonnen, die zu diesem Zweck mitunter erst neu erfunden werden müssen. Schon die Sowjetherrschaft hatte ja auch eine Europäisierung mit sich gebracht, jetzt sind es umso mehr die in der Kunst vorherrschenden europäisch-amerikanischen Methoden und Attitüden, die den neuen Künstlern helfen, ihr neues Selbstbewusstsein auszudrücken. Und das versucht sich zugleich gegen den russischen Norden und den amerikanischen Westen abzugrenzen, gegen den Islam und gegen die alte kulturelle und neue ökonomische Dominanz Chinas.
Rustam Khalfin ist der erste Künstler, der jemals in Kasachstan Performances machte. Zusammen mit Julia Tikhonova zeigt er ein Video, in dem es um Sex auf einem Pferd geht. Das möchte aber nicht als Erotikfilm gesehen werden, sondern als Auseinandersetzung mit der chinesischen Holzschnittfolge, die unter dem Titel „Nördliche Barbaren“ im 19. Jahrhundert derartige Praktiken darstellte. Der aktuellen Ökonomie wenden sich Gulnara Kasmalieva und Muratbek Djoumaliev aus Kirgisien zu: Ihre Videoinstallation „Transsibirische Amazonen“ ist eine Hommage an die meist weiblichen Kleinhändler, die in Plastiktaschen dringend benötigte Waren aus China herbeischaffen.
Dagegen wirkt die offiziell aus China entsandte Kunst auf den ersten Blick eher konventionell. Im offenen Projekt „Farmer Du Wenda’s Flying Saucer“ lassen die Künstler Peng Yu und Sun Yuan Bauern aus der Anhui Provinz, die das schon seit Jahren versuchen, auch in Venedig an einem Ufo bauen. Wirklich nur ein netter, angenehm verrückter Einfall? Oder im in der chinesischen Kultur angelegten System vielfältiger Bezüge vielleicht ein Verweis auf die zurzeit unbeachteten Thesen Maos, dass eine Revolution vom Lande auszugehen habe, dass also die Utopie nicht in den Glitzerstädten der Küste eingelöst ist, sondern erst noch zu erstellen wäre – und zwar aus eigener Kraft?
Fast messemäßig ist allerdings das Formenspiel von Yung Ho Changs Raumkonstruktion aus Bambus, die einfach nur zeigt, was mit dem Material alles Schönes zu machen ist. Schreie aber gellen aus dem ehemaligen Diesellager des Arsenals: Dort werden stochastisch auf die alten schwarzen Tanks 40 Video-Takes aus Schanghai projiziert, in denen Xu Zhen an belebten Orten wie Markt oder U-Bahn mit versteckter Kamera die nur kurz in ihrer Bewegung irritierten Reaktionen der Menge auf ganz und gar ungehöriges und ordnungswidriges Brüllen zeigt. Im Nebengang inszeniert Liu Wie ein von Bewegungsmeldern gesteuertes Blitzlichtgewitter, das die Besucher zu Fotografen-umlagerten VIPs erhebt – oder wie Folter wirkt.
Deutlich wird zumindest, dass junge, zumindest teilweise kritische Kunst inzwischen auch von offiziellen chinesischen Stellen akzeptiert wird. Und die verlautbaren gar, mit der Teilnahme Chinas werde im Übrigen die ganze Biennale in Richtung Osten neu zentriert. Schon für die nächste Biennale ist ein fester, repräsentativer Pavillon der Volksrepublik geplant. Und dann wird natürlich nach chinesischen Kriterien gebaut. Schon für den ersten nationalen Auftritt auf der 110 Jahre alten Kunstschau hat Meister Wang Qiheng die Stadt und das Kunstgelände nach positiven und negativen Energieströmen untersucht. Das Spiel mit den Ordnungsprinzipien des Feng Shui mag modisch wirken, es nimmt aber auch die asiatische Herrschaft schon vorweg: Endlich erklärt ein Chinese dem Rest der Welt, wie Venedig funktioniert.
Bis 6. November, Palazzo Pisani, Palazzo delle Prigioni, Öllager und Isola di Vergine im Arsenale. Katalog „Art from Central Asia – A Contemporary Archive“, englisch/russisch, 25 €