: 600 Kilometer sattes Grün
Im Nationalpark Noel Kempff Mercado befanden sich in den 1980er-Jahren die größten Drogen-Labore Boliviens. Heute aber sollen Ökotouristen seinen gewaltigen Artenreichtum erkunden
VON MARTIN H. PETRICH
Der Urwald scheint kein Ende zu nehmen. Unter dem Flugzeug erstreckt sich nun schon über 600 Kilometer weit reines, sattes Grün. Doch dann erheben sich plötzlich am Horizont die steil abfallenden Tafelberge des Meseta Caparú. Beengt sitzen die vier Touristen in der kleinen Cessna, die sie von der bolivianischen Metropole Santa Cruz de la Sierra in zweieinhalb Stunden in Richtung Nordosten an die brasilianische Grenze bringt.
Kurz vor der Ankunft dreht der Pilot noch eine Runde über den imposanten Wasserfällen Arco Iris und Ahlfeld, die am Nordrand des Caparú-Plateaus in die Tiefe stürzen, dann setzt er auf der stoppeligen Landepiste einer Dschungellodge auf.
„Parque Nacional Noel Kempff Mercado – Flor de Oro“ heißt ein Schild die Besucher willkommen. Sie befinden sich am Rand des 15.234 Quadratkilometer großen Nationalparks, der sich im Nordosten Boliviens an der Grenze zu Brasilien entlang zieht. Vor vier Jahren hat ihn die Unesco wegen seiner Artenvielfalt zum Weltnaturerbe erklärt.
Über 620 Vogel- und 130 Säugetierarten wurden in seinen fünf Ökozonen bisher gezählt. Der Park trägt den Namen eines Mannes, dessen Schicksal eng mit ihm verbunden ist: Noel Kempff Mercado. Jahrelang hatte der Naturkundler die Dschungellandschaft rund um das Plateau erforscht – bis zum 5. September 1986, als er mit drei Kollegen zu seiner letzten Expedition aufbrach. Tragischerweise landete ihr Flugzeug unweit des größten Kokainlabors Boliviens, in welchem zeitweise über 200 Menschen arbeiteten. Bis auf einen Mann wurden sie sofort von der Drogenmafia erschossen.
Heute allerdings brauchen die Touristen keine Angst mehr zu haben, zufällig auf eine Drogenküche zu stoßen, denn die befinden sich andernorts. Eher müssen sie auf Moskitos und Anakondas achten. Ansonsten können sie sich bequem zurücklehnen, wenn sie von ihrer Lodge in Flor de Oro aus mit dem Boot den Grenzfluss Río Itenez und seine Nebenarme entlangfahren. Hat der blonde deutsch-brasilianische Bootsfahrer Fernando den Motor ausgestellt, dann beruhigen sich auch die aufgescheuchten Wasservögel wieder. Tukane und Ara-Papageien fliegen kreischend davon.
Aus den Bäumen dringt das Geschnatter der Oatzines herüber. Das sind Urvögel, die wie Kühe zwei Mägen haben – dafür aber kaum fliegen können. Bei nächtlichen Ausfahrten funkeln im Scheinwerferlicht die Augen der versteinert wirkenden Kaimane. Fette Frösche hocken quakend auf den Blättern der Victoria, die wie überdimensionale runde Kuchenbleche friedlich im Wasser treiben.
Während auf bolivianischer Seite die Touristen gebannt durch das Fernglas schauen, blicken nicht weit entfernt brasilianische Sportangler gelassen ins Wasser und freuen sich auf einen guten Fang. Darunter sind nicht nur die zähnefletschenden Piranhas, sondern auch die bedrohten Arrau-Schildkröten. Von den Nationalparkwächtern brauchen sie keine Strafe zu fürchten, denn die vermögen mit ihrer unzureichenden Ausrüstung und geringen Zahl kaum das riesige Grenzgebiet zu kontrollieren.
Die chronisch leeren Kassen sind das Hauptproblem der 21 bolivianischen Nationalparks, deren Gesamtfläche halb so groß ist wie Deutschland. Sie stehen unter Verwaltung der Nationalparkbehörde Sernap, die zu 90 Prozent von ausländischen Geldern abhängig ist – vor allem von der Weltbank und der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Doch die Geldgeber haben keine Lust, auf ewige Zeiten die Finanzlöcher zu stopfen, und drängen darauf, alternative Einkommensquellen zu erschließen. Daher ist Ökotourismus das Zauberwort. Aber das ist leichter gesagt als getan. „Eine Ökoherberge ist schnell hingebaut“, meint Nicole Häusler, die als Tourismusberaterin für Sernap arbeitet, „doch ist es damit nicht getan. So etwas muss auch gemanagt und vor allem vermarktet werden.
Im vergangenen Jahr kamen gerade mal 367.000 ausländische Besucher ins Land, von denen die meisten an den Titicacasee, nach La Paz und in die weltgrößte Salzwüste Salar de Uyuni reisten. Nicht einmal jeder Zehnte verirrt sich in die weite Ebene des Amazonasbeckens, schätzt Jorge Cárdenas, Sales-Manager der Reiseagentur Magri Turismo. Diese Region macht jedoch zwei Drittel des Landes aus, und dort liegen die meisten Nationalparks. „Kaum einer weiß, dass Bolivien zu den 15 Ländern mit der weltweit höchsten Artenvielfalt zählt“, klagt Cárdenas, der als Präsident der Umweltorganisation Trópico (www.tropico.org) den Ökotourismus fördern möchte.
Über zu viele Besucher kann sich auch Los Fierros – eine weitere Dschungellodge im südlichen Teil des Noel-Kempff-Parks – nicht beschweren. In der 40-Betten-Herberge nächtigten im vergangenen Jahr weniger als 200 Touristen. Dabei hat das Gebiet um Los Fierros einiges zu bieten: In der nahe gelegenen Feuchtsavanne können Jaguare und Tapire beobachtet werden. Auch der Dschungeltreck zum Catarata El Encanto, einem 80 Meter hohen Wasserfall, ist empfehlenswert.
Wie Korkenzieher-gedrehte Lianen, die so dick sind wie Baumstämme, säumen den Wegesrand. Immer wieder werden die Wanderer von einem Vogelruf aufgeschreckt, der sich anhört, als würden bolivianische Bauarbeiter einer blonden Gringa nachpfeifen. Doch hat sich kein Macho im Wald versteckt: Hier verteidigt lediglich der scheue Serigero-Vogel sein Revier.
Hauptattraktion ist jedoch der Aufstieg zur Meseta Caparú. Diesen 150 Kilometer langen Tafelberg hatte der britische Landvermesser Colonel Percy Fawcett 1910 dem schottischen Schriftsteller und Sherlock-Holmes-Erfinder Sir Arthur Conan Doyle dermaßen eindrucksvoll beschrieben, dass er ihn als zentralen Schauplatz in seinen zwei Jahre später erschienenen Roman „The Lost World“ einbaute. Die Ausblicke vom steil abfallenden Rand des knapp 600 Meter über der Ebene liegenden Plateaus aus rotem Sandstein sind in der Tat atemberaubend. Man kann auf der lichten Hochebene bis zum verlassenen Drogenlabor Huanchaca II wandern und rund um ein Flugzeugwrack zahlreiche Vogel- und Schmetterlingsarten beobachten. Eine wahrlich vergessene Welt.