: Ende der Ausreden
Seitdem die sowjetische Bedrohung verschwunden ist, sind die in Europa stationierten taktischen US-Atomwaffen überflüssig. Ein Appell von Robin Cook und Robert McNamara
Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit die Berliner Mauer gefallen ist, aber tausende amerikanische und russische taktische Atomwaffen, einst für den möglichen Einsatz auf dem europäischen Schlachtfeld gebaut, existieren immer noch.
Jetzt ist es an der Zeit für die Verantwortlichen der Nato, den Weg für ein Abkommen mit Russland über die Erfassung und nachprüfbare Vernichtung taktischer Atomwaffen zu ebnen, indem sie die in Europa verbliebenen Waffen dieses Typs abziehen. Ein solches Abkommen würde Bemühungen unterstützen, die Weitergabe von Atomwaffen an Schurkenstaaten und Terroristen zu verhindern.
Der stufenweise Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen aus Europa und die graduelle Beendigung der verbliebenen militärischen Aufgaben taktischer Atomwaffen würde ein gefährliches Kapitel europäischer Geschichte beenden und die veränderte Rolle des nordatlantischen Bündnisses nach dem Kalten Krieg bestätigen.
Während des nuklearen Patts zwischen Ost und West hatte das Bündnis tausende taktischer Atomwaffen stationiert, damit durch Zentraleuropa heranrückende sowjetische Panzerkolonnen bekämpft werden könnten. Viele dieser Waffen sind abgezogen worden – aber nicht alle.
Heute lagern noch immer rund 400 taktische Bomben auf Luftwaffenstützpunkten in Belgien, Großbritannien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei. Im Rahmen der nuklearen Teilhabe der Nato könnten in Kriegszeiten ungefähr 180 dieser Waffen von europäischen Bündnismitgliedern eingesetzt werden.
Die Nato behauptet weiterhin, dass diese Waffen Zeichen der Solidarität innerhalb des Bündnisses und der gemeinsamen Verpflichtung zur Kriegsverhinderung sind. Aber solche Aussagen klingen archaisch in einer Zeit, in der die Solidarität der Verbündeten täglich im Kampf gegen die Taliban in Afghanistan geprüft wird und Nato-Soldaten vereint gegen ein Wiederaufflammen des gewalttätigen Nationalismus auf dem Balkan eintreten.
Seitdem die sowjetische Bedrohung verschwunden ist, erfüllen die in Europa stationierten taktischen US-Atomwaffen keine sinnvolle militärische Rolle mehr bei der Verteidigung Europas. Angesichts der aus einem Atomwaffeneinsatz resultierenden humanitären Katastrophe ist es schwer vorstellbar, dass die politisch Verantwortlichen der 26 Nato-Mitgliedsstaaten willens wären, die nukleare Schwelle zu überschreiten und diese Waffen tatsächlich einzusetzen. Nuklearwaffen sind unvereinbar mit der neuen Rolle der Nato als globale Organisation für Konfliktmanagement und Krisenprävention.
Noch schlimmer ist, dass diese gefährlichen Relikte aus der Zeit des Kalten Krieges eine Belastung der internationalen Sicherheit darstellen, weil sie Fortschritte in Bezug auf ein Abkommen mit Russland über die Kontrolle und Vernichtung taktischer Atomwaffen verhindern. Russland hält immer noch an mindestens 3.000 Waffen dieser kleinen, tragbaren, aber trotzdem verheerenden Waffen fest.
Taktische Atomwaffen könnten ein Ziel von Terroristen sein, die versuchen, sich Massenvernichtungswaffen zu beschaffen. Russlands Befehls- und Kontrollsysteme sind unzureichend, die russischen Atomwaffentransporte schlecht gesichert und somit anfällig für Angriffe und Raub.
Als ein für die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen verantwortliches hochrangiges US-Regierungsmitglied am 24. Mai vor dem amerikanischen Kongress gefragt wurde, was seiner Meinung nach die größte atomare Bedrohung sei, antwortete er: „Meiner Meinung nach ist dies ein verschwundener nuklearer Sprengkopf der ohne Weiteres eingesetzt werden kann … eine Artilleriegranate oder eine tragbare nukleare Waffe. Ein solcher Vorfall ist sehr unwahrscheinlich, hätte aber weitreichende Folgen. Die Russen sichern ihre Sprengköpfe meist besser als ihr nukleares Material. Also ist es ein geringeres Risiko, aber die Folgen sind dramatisch.“
Der Abzug taktischer US-Atomwaffen aus Europa würde Moskaus wichtigste Ausrede für die Verzögerung von Verhandlungen über den Abbau des eigenen Bestandes an taktischen Atomwaffen zunichte machen. Der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow bezog sich eindeutig auf die in Europa verbliebenen US-Atomwaffen, als er am 2. Juni mitteilte, dass Moskau „nur dann bereit sei, Gespräche über taktische Atomwaffen zu beginnen, wenn alle Länder die über solche Waffen verfügen, diese auf ihrem Heimatterritorium lagern“.
Obwohl die Regierung Bush an einer besseren Erfassung und Kontrolle von Russlands taktischen Atomwaffen interessiert ist, wird sie wahrscheinlich keine Änderungen der Nato-Politik initiieren, um die Aussichten, jenes Ziel zu erreichen, zu verbessern. US-Regierungsmitglieder sagen, dass sie eine Diskussion über die Atomwaffenpolitik der Nato begrüßen, wenn ein Mitglied des Bündnisses eine solche Debatte anstößt.
Es wird die Aufgabe der politisch Verantwortlichen in Europa sein, die Regierung in Washington zu einem Abzug der verbleibenden US-Nuklearwaffen zu drängen und Russland aufzufordern, ernsthaften Gesprächen über den nachprüfbaren Abbau taktischer Atomwaffen zuzustimmen. Die nächste Gelegenheit dazu bietet sich am Rande des G-8-Gipfels Mitte nächster Woche.
Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, werden die Sicherheit der Welt mitbestimmen, die wir unseren Kindern hinterlassen. Die Aufgabe, diese gefährliche Hinterlassenschaft des Kalten Krieges zu bewältigen, wird nicht einfach sein, aber wir müssen sie angehen, und zwar bald.
Das englische Original dieses Beitrags ist am 23. Juni 2005 in der „Financial Times“ erschienen. Übersetzung: Oliver Meier