Ist das Grundgesetz beschädigt?

JA!
Der gestrige Tag war eine Verabredung zum Verfassungsverstoß, denn der Kanzler ist – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – handlungsfähig. Damit hat Gerhard Schröder die Verfassung auf den Kopf gestellt: Ein Bundeskanzler kann keine Neuwahlen „herbeiführen“. Politische Tricksereien gehören nicht zum Bestand des Grundgesetzes. Die Vertrauensfrage war ein absurdes Theater – allerdings ohne Drehbuch. Damit hat Schröder auch noch den Bundespräsidenten brüskiert. Und Horst Köhler soll diesem getürkten Verfahren nun seinen Segen geben.

Mit ihrem Neuwahl-Coup wollten Gerhard Schröder und Franz Müntefering die SPD schnell und diskussionslos auf Linie zwingen. Es war die Verabredung zum Verfassungsverstoß; denn das Grundgesetz taugt nicht als Trickkiste für den innerparteilichen Machterhalt.

Der Bundeskanzler kann keine Neuwahlen anordnen. Auch der Bundestag ist für vier Jahre gewählt und hat kein Recht zur Selbstauflösung. Das Grundgesetz kennt vorzeitige Neuwahlen nur als Notausgang bei einer ernsten Staatskrise: wenn die Regierung mangels Parlamentsmehrheit handlungsunfähig ist und der Bundestag keinen neuen Kanzler wählen kann.

Zweimal haben Vertrauensfragen vorzeitige Neuwahlen ermöglicht. Aber beide Fälle legitimieren nicht Schröders Tun. Willy Brandt hatte 1972 für seine Ostpolitik die Mehrheit verloren; seine Vertrauensfrage war nicht fingiert. 1982 stand hingegen die Mehrheit hinter Kohl, als er vorzeitige Neuwahlen anstrebte. Zwar war ihm bei seiner Wahl durch konstruktives Misstrauensvotum nur ein sachlich und zeitlich beschränkter Regierungsauftrag erteilt worden; gleichwohl tat sich Bundespräsident Carstens mit der Parlamentsauflösung schwer.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bestätigte deren Zulässigkeit, setzte aber für die Zukunft klare Grenzen. Eine „Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag“ sei „ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal“ von Artikel 68 Grundgesetz. Ein Kanzler, dessen ausreichende Bundestagsmehrheit außer Zweifel stehe, dürfe sich nicht „im geeignet erscheinenden Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten lassen mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben“. Insbesondere rechtfertigten „besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Legislaturperiode sich stellenden Aufgaben die Auflösung nicht“.

Mit diesem Karlsruher Urteil ist Schröders Vorgehen unvereinbar. Er regierte mit knapper, aber stabiler Mehrheit. Rot-Grün wollte die Legislaturperiode durchhalten. Nach dem 22. Mai überboten sich die Abgeordneten seiner Koalition sogar mit Treueschwüren. Von Instabilität oder Handlungsunfähigkeit im Rechtssinne konnte keine Rede sein. Schröders kryptischer Hinweis, er wolle die Situation zur Ermöglichung der Neuwahl „herbeiführen“, stellte die Verfassungserfordernisse auf den Kopf: Nicht der Bundestag hatte dem Kanzler das Vertrauen entzogen, sondern Schröder bestritt dem Parlament ohne Anlass die Gestaltungsfähigkeit. Für ihre bloß unterstellte Untreue sollen die Abgeordneten mit dem Verlust eines Viertels ihrer Mandatszeit bezahlen. Die Koalitionäre wurden vorgeführt als Statisten eines absurden Theaterstücks, dessen Regisseur kein Drehbuch hatte. Auch wenn sie gestern abnickten, was der Kanzler ihnen zumutete und sie nicht wollten: Es war Demokratie paradox.

Besonders brüskiert hat Schröder das Staatsoberhaupt, das allein den Bundestag auflösen und Neuwahlen anordnen darf. In dieser Frage hat der Bundespräsident die Entscheidungsmacht: Er muss nach einer gescheiterten Vertrauensfrage nicht nur die Rechtmäßigkeit des Vorganges prüfen, sondern auch politisch entscheiden, ob er Neuwahlen ansetzt oder den Kanzler im Amt hält. Schröder hat dieses Entscheidungsrecht des Bundespräsidenten absichtsvoll missachtet, um ihn auf vorzeitige Neuwahlen festzulegen. Horst Köhler soll nun einem getürkten Verfahren den Segen geben und dafür anschließend in Karlsruhe haften.

Das Bundesverfassungsgericht aber sah eine Parlamentsauflösung nach Artikel 68 GG nur gerechtfertigt, wenn „drei oberste Verfassungsorgane – Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident – in einem gestuften Verfahren jeweils selbstständige politische Beurteilungen gefällt haben“. Nach dem Handstreich Schröders ist dieses Kompetenzgefüge beschädigt und das Verfahren delegitimiert.

Ohne Zweifel darf der Bundespräsident die Volte des Kanzlers nun durchkreuzen. Aber tatsächlich sind seine Möglichkeiten beschränkt, weil er den Flurschaden des Gezerres vor der Vertrauensabstimmung mit zu berücksichtigen hat.

Zudem müsste der Bundestag, der sich gestern in den Wahlkampf verabschiedet hat, reanimiert werden und wäre doch kaum mehr arbeitsfähig. Das Parlament bliebe in einjährigem Wachkoma; eine wenig verlockende Perspektive. Eins immerhin hat Schröder also erreicht: Sein Verfassungsverstoß hat jetzt die Krise geschaffen, deren Existenz die Voraussetzung für sein Handeln gewesen wäre.

Fotohinweis: GERNOT FRITZ, geboren 1952, Dr. jur., unter Bundespräsident Herzog stellvertretender Chef des Bundespräsidialamtes. Gernot Fritz ist Mitautor des „Bonner Kommentars zum Grundgesetz“, er arbeitet als Rechtsanwalt.

NEIN!
Der Kanzler hat das Grundgesetz um keinen Millimeter verbogen, denn der Artikel 68 hält den Spielraum bereit, den Gerhard Schröder gestern mit einer überzeugenden Argumentation für sich genutzt hat. Das werden auch Horst Köhler und die Karlsruher Verfassungsrichter einsehen.

Man kann Gerhard Schröder Dummheit vorwerfen oder Tollkühnheit, aber dass er mit seinem Neuwahl-Manöver die Verfassung gebrochen hat, ist sicher falsch. Das Bundesverfassungsgericht wird das in einigen Wochen – noch vor den Wahlen – klarstellen. Eine inszenierte Niederlage bei einer Vertrauensabstimmung ist immer dann zulässig, wenn der Kanzler Neuwahlen anstrebt, weil er sich seiner Mehrheit nicht mehr sicher ist. Auf den konkreten Ablauf der Abstimmung kommt es dann gar nicht mehr an.

Schon der Wortlaut von Artikel 68 Grundgesetz lässt völlig offen, warum eine Vertrauensabstimmung eingeleitet und verloren wird: „Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen.“ Die Formulierung ist also völlig neutral. Der Wortlaut des Grundgesetzes wurde gestern keinen Millimeter verbogen.

Zusätzliche Anforderungen hat erst das Bundesverfassungsgericht 1983 in seinem Urteil zur Vertrauensfrage Helmut Kohls eingeführt. Die inszenierte Niederlage bei einer Vertrauensabstimmung, sei nur dann möglich, wenn eine „politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag“ besteht. Der Kanzler soll Neuwahlen also nur dann auslösen können, wenn er die Stabilität der Regierung in Gefahr sieht – nicht weil er gerade besonders populär ist oder Deutschland die Fußball-WM gewonnen hat. Deshalb hat Karlsruhe eine fingierte Vertrauensfrage ausgeschlossen, wenn die Mehrheit des Kanzlers „außer Zweifel“ steht.

Bei zuletzt nur noch drei Stimmen Mehrheit ist aber die Möglichkeit wirklich nicht fern liegend, dass Schröder erpressbar geworden ist. Der Kanzler hat insofern eben nicht dem ganzen Parlament „das Misstrauen ausgesprochen“, sondern nur einer Hand voll Abgeordneten, auf die es für die rot-grüne Mehrheitsbildung aber ankommt.

Da hilft auch der Verweis auf die in den letzten Jahren stets doch noch gelungene rot-grüne Mehrheitsbildung nicht weiter. Entscheidend ist nicht die Vergangenheit, sondern was der Kanzler für die Zukunft befürchtete. Immerhin erhielt er im Mai von Fraktionschef Müntefering die Nachricht, dass jener beim Verlust der NRW-Wahl für nichts mehr garantieren könne, ein sicher ernst zu nehmendes Szenario. Dass linke Abgeordnete wie Ottmar Schreiner und Christian Ströbele zuletzt dem Kanzler treuherzig ihr Vertrauen aussprachen, ist juristisch unerheblich. Es kommt eben nicht darauf an, was sie nach Ankündigung der Vertrauensfrage getan haben, sondern darauf, was der Kanzler befürchten musste, wenn er nicht zu diesem Mittel gegriffen hätte.

Ob die Befürchtungen Schröders tatsächlich eingetroffen wären, das kann niemand sagen, auch das Verfassungsgericht nicht. Deshalb hat Karlsruhe 1983 dem Bundeskanzler hier zu Recht einen Einschätzungsspielraum zugebilligt, den nicht nur der Bundespräsident, sondern auch die Richter selbst zu achten haben. Schon deshalb haben die angekündigten Verfassungsklagen keine Chance. Schröder hat seine Gründe gestern hinreichend überzeugend geschildert. Man kann ihm auch nicht vorwerfen, er habe durch sein Vorgehen die Rechte des Bundespräsidenten verletzt.

Selbst wenn Horst Köhler akzeptiert (und wohl auch akzeptieren muss), dass der Kanzler von einer instabilen Lage ausgeht, so hat der Präsident anschließend immer noch ein weites politisches Ermessen, ob er nun den Bundestag auflöst oder nicht. Von der eingetretenen Wahlkampfstimmung müsste sich Köhler wirklich nicht beeindrucken lassen. Diese Stimmung könnte er schnell beseitigen, indem er schlicht Neuwahlen verweigert.

Die Frage ist nur, warum sollte er einen Kanzler im Amt halten, der lieber ein Wahldebakel ansteuert, als noch ein Jahr zu regieren? Köhler hat schlicht keinen Grund, sich dem allgemeinen Wunsch nach Neuwahlen zu verweigern. Die Bürger sind dafür, alle Fraktionen sind dafür, und es wird niemand über den Tisch gezogen (außer in den rot-grünen Fraktionen – aber die könnten sich selbst wehren, indem sie einfach einen anderen Kanzler wählen).

Natürlich wäre es ehrlicher, eleganter und transparenter, das Grundgesetz zu ändern und ein Selbstauflösungsrecht des Bundestags einzuführen. Die Weimarer Republik ist schließlich nicht daran gescheitert, dass das Parlament zu leicht aufgelöst werden konnte, sondern weil es damals zu wenig überzeugte Demokraten gab.

Aber gerade weil es heute so weitverbreitete Sympathie für die Grundgesetzänderung gibt, besteht umso weniger Grund, den geltenden Artikel 68 besonders streng auszulegen.

Fotohinweis: CHRISTIAN RATH, 40, Dr. jur., rechtspolitischer Korrespondent der taz. Er glaubt, dass es Wichtigeres gibt als die Frage, ob Abgeordnete taktisch abstimmen dürfen, um ihren Kanzler in den Ruhestand zu schicken.