An einem Tag wie diesem

Am 1. Juli 2005 ist vor dem Reichstag alles wie immer: Demonstranten demonstrieren, Passanten flanieren. Und im Gebäude? Fühlt es sich historisch an

VON HEIKE HAARHOFF

Das Wichtigste an einem solchen Tag, der schon im Vorhinein als historisch eingeordnet wurde, ist ja, den Überblick zu behalten. Also den Fernseher an.

Es ist 7.42 Uhr, und eine bekannte Stimme erklärt, dass es jetzt nur noch „die Wahl zwischen der Regierung der Mitte und der Unregierbarkeit“ gebe. Um 7.42 Uhr! Und ein voll besetzter Bundestag klatscht auch noch dazu.

Keine Frage: Schröder ist ein letzter Coup gelungen. Er hat die Debatte um die Misstrauensfrage einfach um zweieinhalb Stunden vorverlegt. Aber dann wird ein Datum eingeblendet, der 17. Dezember 1982, das ist nun wirklich historisch, und der Redner ist bei genauem Hinsehen auch gar kein Mitglied des aktuellen Parlaments, sondern Hans-Dietrich Genscher, das langjährige Gesicht der FDP, und übertragen wird die Bundestagsdebatte, die Helmut Kohl damals mit seiner Misstrauensfrage auslöste.

Von wegen historisch also?! Zweimal schon hat das Parlament in der Geschichte der Bundesrepublik einem Kanzler das Misstrauen ausgesprochen, um den Weg für Neuwahlen freizumachen. Mal sehen, wie es diesmal wird.

Vor dem Reichstag: Business as usual. Jopi, ein Dauerdemonstrant mit Papp-Plakat, warnt wie an allen Sitzungstagen, „dass alle Politiker Gauner sind“, ein paar Meter weiter verteilt ein Herr Merzenich Flugblätter, auf denen etwas steht von „faschistisch“ und „korrupt“ in Zusammenhang mit Politik. Dass drinnen gleich der Kanzler eine wichtige Rede halten wird, dass es voraussichtlich Neuwahlen und einen Politikwechsel geben wird im Land, dass hier eine Regierung freiwillig und vorzeitig auf die Macht verzichtet? Herr Merzenich guckt, als höre er davon zum ersten Mal. „Für meine Präsenz hier spielt dit jar keene Rolle.“

Für Claudia Roth schon. Die grüne Parteichefin will sich morgens im Foyer des Reichstags schnell in die Anwesenheitsliste eintragen, da sticht ihr Ungeheuerliches ins Auge: Jemand hat bereits für sie unterschrieben.

„Das gibt’s doch nicht“, wütet sie, streicht die Signatur beherzt durch und quetscht ihre eigene daneben. Wer erdreistet sich zu glauben, Claudia Roth würde „an einem Tag wie heute“, wie sie mit Tragik betont, nicht persönlich erscheinen? Wenn ihre Partei schon gegen ihren Willen demnächst vermutlich in der Opposition sein wird, dann will sie wenigstens zeigen, dass sie bis ganz zuletzt im Einsatz war. Falls es mal Rückfragen geben sollte, an historische Augenzeugen quasi.

Dokumentieren, dass man dabei war. Das scheint jetzt, wo alles wie bereits gelaufen aussieht, eines der Hauptanliegen der flink auf den Gängen umherlaufenden Abgeordneten von SPD und Grünen zu sein. Gewichtig gestikulieren sie vor den Kameras und versuchen, das Verhalten des Kanzlers zu erklären, der angesichts der Blockade im Bundesrat keinen Spaß mehr am Regieren hat, je nach Positionierung mal wohlwollend, wie der SPD-Politiker Volker Neumann („Wie sollte er es anders machen?“), mal geringschätzig wie der Grüne Thilo Hoppe („Schmierentheater!“). Sogar CNN überträgt live und weltweit. Weiß man, wann man je wieder eine solche Audienz bekommen wird?

Das nicht politische und nicht mediale Publikum dagegen verfolgt das Geschehen mit großer Gelassenheit. „Wir mussten hierher mit der ganzen Klasse“, sagt ein Gymnasiast aus Freiburg, der diesen Tag „lieber mit Shoppen und Sightseeing“ verbracht hätte.

Ein Unternehmer aus Stuttgart, der dienstlich in der Bundeshauptstadt ist und sich aus Neugierde einen Besucherausweis besorgt hat, sagt nach einer Stunde Debatte: „Wissen Sie, mir wäre es am liebsten, es gäbe nur zwei Parteien, die sich immer abwechseln täten. Dann würden wir uns dieses ganze Theater sparen.“

Und ein US-Amerikaner aus Wisconsin, der auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung mit einer Gruppe Berlin besucht, schüttelt bloß fassungslos den Kopf. „Vote of no-confidence“, sagt er dann, „we don’t have that.“ In den USA werde der Präsident direkt vom Volk gewählt und müsse, „damn it!“, seine Amtszeit durchstehen. Aber dass Gerhard Schröder andere Auffassungen als der amerikanische Präsident vertrete, das, sagt der Herr aus Wisconsin abschätzig, habe er schon lange gewusst.