Wir hatten die Kraft

EDITORIAL Manager und Minister können es wieder lockerer angehen lassen. Denn der Preis für schnelle Erfolge im Kampf gegen die Krise war der Frieden mit der Finanzwirtschaft. Es fehlt jeder Mechanismus, neues Denken in die Zonen der Macht eindringen zu lassen

VON INES POHL UND REINER METZGER

Seit einem Jahr genau ist alles irgendwie Krise. 356 Tage panische Finanzminister und Bankenpleiten in Serie. Die Misere an den US-Kreditmärkten dauerte zwar schon länger an, aber am 15. September 2008 mussten die berühmten Lehman Brothers Konkurs anmelden. Damit gilt dieses Datum vielen als der Moment der Zeitenwende. Doch was ist zum Jubiläum von der Krise wirklich geblieben? Alles scheint ruhig an den „Märkten“, in den Diskussionen geht es wieder darum, wo man die höchste Rendite erzielt, nicht um die sichersten Bunker für Goldbarren.

Sie wollen nicht an das Ende der Krise glauben? Zugegeben, es gibt durchaus ein paar Anhaltspunkte dafür, dass das System auch weiter auf Crashkurs ist: Die Wirtschaft in Deutschland schrumpfte im Lehman-Jahr um 6,9 Prozent. In Friedenszeiten beispiellos. Die Staatsverschuldung schnellt in praktisch allen Industrieländern hoch. Und dann gibt es noch Millionen Armutsflüchtlinge weltweit und den Klimawandel sowieso.

1.700 Milliarden am Tag

Was mit den 1,4 Millionen Deutschen passiert, die derzeit mithilfe von Beiträgen aller Arbeitnehmer durch Kurzarbeit vor der Arbeitslosigkeit bewahrt werden, ist völlig unklar. Und die kommende Bundesregierung kommt nicht drum herum, ihr Staatsdefizit abzubauen. Möglich wären Einsparungen bei den öffentlich Beschäftigten oder eben Steuererhöhungen. Stehen Politiker, Banker und Wirtschaftskapitäne also doch in akutem Zugzwang? Weit gefehlt. Staatsverschuldungen und langfristige, diffuse Risiken des Welthandels sind für die tägliche Politik nicht entscheidend. Sie treiben auch keine Hausmänner oder Arbeiter auf die Barrikaden. Manager wie Minister können es wieder lockerer angehen, ein Jahr nach Lehman: Der DAX erholt sich von Woche zu Woche und steht wieder auf 5.500 Punkten. Das sind nur noch 1.000 Punkte weniger als vor der Krise. Und der über die Jahre sehr aussagekräftige ifo-Geschäftsklimaindex der deutschen produzierenden Industrie ist nach einem Absturz im vergangenen Herbst wieder auf seinem langjährigen Mittelwert. Auch bei der Finanzhandelsstelle Clearstream in Luxemburg ist das Vor-Krisen-Niveau fast wieder erreicht, im August lagen dort Vermögenswerte von über 10 Billionen Euro. Und Clearstream ist nur die Nummer zwei in Europa. Der Marktführer Euroclear in Brüssel wirbt gerade um Geldhändler mit dem Argument, dass sie dort 1.700 Milliarden bewegen könnten – täglich.

Die Gelegenheit zur Reform wurde verpasst. An dem Kapitalismus, wie wir ihn kennen, wird sich praktisch nichts ändern. Beim Weltfinanzgipfel mit US-Präsident Barack Obama Ende September werden ein paar Regeln für Banken angepasst, und das war es dann wieder. Bis zur nächsten Krise.

Die Konservativen haben ihre Chance zum „Ruck“ ebenso verstreichen lassen wie die eher Linken. Es gibt keinen Wandel à la Willy Brandt oder wie bei den beiden Roosevelt-Präsidenten in den USA. Dabei bekennen Politiker in privatem Rahmen durchaus, dass sie das Hamsterrad der modernen Weltwirtschaft gern wirksam bremsen würden. Aber keiner war auf die Krise vorbereitet, keiner konnte ihren Schwung schnell genug nutzen.

Ein Jahr danach wissen wir, wie klein so ein Reformzeitfenster wirklich ist: Zentralbanker und Finanzminister mussten nach der Lehman-Pleite schnell handeln, und genau das taten sie auch. Damit haben sie eine totale Krise wie in den 20er- und 30er- Jahren verhindert, Billionen Dollar und Euro an Bürgschaften gegeben und hunderte Milliarden Risiko- und Überbrückungskredite gewährt. Das hat zum Glück funktioniert. Denn die jahrzehntelange Wirtschaftsdepression des 20. Jahrhunderts hatte fatale Folgen für Millionen Menschen, für Krieg und Frieden und die Demokratie.

Friede den Banken

Doch der Preis für die koordinierten Notmaßnahmen war der Friede mit der Finanzwirtschaft. Es wurden und werden keine wirklich nachhaltigen Kriterien auf internationaler Ebene in die Weltwirtschaft eingebaut. Die völlige Fixierung auf ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum konnte und kann kein Politiker brechen. Es fehlt jeder Mechanismus, grundlegend neues Denken in die Zonen der Macht eindringen zu lassen. Der ferne Druck der begrenzten Ressourcen der Erde oder auch die akuten Folgen des rasanten Wandels für die Menschen in praktisch allen Ländern der Welt – so etwas bringt keine Spenden für den Wahlkampf, so etwas motiviert keine Industrielobby zur Unterstützung. Auch die Wähler stimmen lieber über Konkretes ab, selbst wenn sie die Hauptlast jeder Krise zu tragen haben. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bedeuten Finanzkrise und Rezession für jeden Deutschen einen Wohlstandsverlust von 3.000 Euro.

„Wir haben die Kraft“, lautet der Wahlslogan der CDU. „Wir hatten die Kraft“ wäre richtig. Jetzt zittert die Union um eine bequeme Koalition mit wem auch immer und wird sich in der kommenden Bundesregierung abkämpfen auf der Suche, wo sie Steuern erheben und Ausgaben senken kann.

Was bleibt? Das Übliche und zum Glück auch Altbewährte. Die berühmten „Mühen der Ebene“ von Bert Brecht. Der stete Tropfen des Aktivismus, der direkten Einmischung, der guten Beispiele, die sich durchsetzen.Es bleibt wohl auch eine starke Linkspartei im neuen Bundestag. Was immer man von ihrem Programm halten mag: sie ist zusammen mit den Grünen ein Hebel der Veränderung, wenn sich in der Gesellschaft genügend Leute finden, die über sie Inhalte in den Bundestag einspeisen. Dazu kommen die vielfältigen Möglichkeiten, die sich mit dem Internet und dortigen Kampagnen entwickeln.

Die taz wird darüber berichten, mit einer noch höheren Dringlichkeit, mit Reportagen von dort, wo sich etwas bewegt, und mit Beiträgen von jenen, die neue Wege denken. Damit sich zumindest unsere LeserInnen bei der nächsten Gelegenheit nicht wieder fragen müssen: Worauf haben wir eigentlich gewartet?