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Archiv-Artikel

„Die Risse des Systems aufdecken“

Oskar Negt, international renommierter Soziologe und Philosoph, warnt im Gespräch mit der Kontext:Wochenzeitung im Rahmen der Reihe über die Arbeitswelt vor einer Auflösung der Gesellschaft. Die sieht er vor allem durch eine umfassende Kommerzialisierung bedroht. Existenzielle Probleme wie der Konflikt zwischen Arm und Reich würden massiv verdrängt – auch mittels Mega-Events wie der Fußball-EM

Oskar Negt im Gespräch mit Ingo Anhenn und Wilfried Voigt; Fotos: Martin Storz

Herr Negt, alle reden vom Fußball, wir nicht. Sie?

Nein, ich auch nicht. Aber ich habe etwas im Hotelfernseher gesehen. Es scheint ja ein europäisches Phänomen zu sein: Die alten Nationalstaaten lösen sich auf, aber die Empfindungen, die nationalstaatlichen Prägungen sind so, als ob es um Krieg und Frieden ginge, wenn eine Mannschaft gewinnt oder verliert.

Ist das nicht ein Rückschritt, wenn man an Europa denkt?

Auf jeden Fall ist es besser als Krieg. Aber erstaunlich ist es schon, insbesondere wenn man daran denkt, dass in den „National“-Mannschaften ja häufig eine bunte Völkermischung zusammen spielt.

Der Sport boomt, die Volksmusik ebenso, und vorwiegend im Privatfernsehen werden Menschen vorgeführt wie im Zirkus. Funktioniert das Prinzip Brot und Spiele auch heute noch?

Ich glaube schon, dass die unterhaltenden Verdrängungsleistungen, so möchte ich das bezeichnen, ein gewaltiges Ausmaß angenommen haben. Insofern trifft der Vergleich mit dem späten Rom ein Stück weit zu: Je stärker die Probleme des Imperiums werden, desto größer wird der Circus maximus. Die Verdrängung der Probleme hat ein sehr großes Ausmaß erreicht, weil die Orientierungsnot der Menschen sehr groß ist.

Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der Arbeitswelt. Welche Rolle spielt die Verdrängung in diesem zentralen gesellschaftlichen Bereich?

Die Verdrängung der Probleme der Arbeitsgesellschaft ist so groß, dass ich immer wieder erstaunt bin, wie wenig das in die offizielle Öffentlichkeit eindringt. Nicht die Mangelerscheinungen sind das Problem, sondern die Überflussproduktion, die erhöhte Produktivität. Wie wird die Wertschöpfung gesellschaftlich verteilt? Inzwischen wird mit Geld umgegangen, wie es noch vor zehn Jahren undenkbar war. Wenn heute über 100 Milliarden für die spanischen Banken geredet wird, dann sind das ja unvorstellbare Dimensionen, wenn man zugleich die Kürzungen der Sozialleistungen sieht. Dieser Widerspruch zwischen einer überbordend reichen Gesellschaft und der Verarmung in vielen Bereichen ist für mich ein unglaublicher gesellschaftlicher Skandal.

Sie kritisieren, die Politiker und Manager würden alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche einer betriebswirtschaftlichen Rationalisierung unterwerfen. Was meinen Sie konkret?

Derzeit ist die ökonomische Vernunft geschrumpft auf betriebswirtschaftliche Rationalität. Es geht nicht um die Gesamtsituation einer Gesellschaft, die auch Vorsorge trifft für die künftigen Generationen. Heute besteht die große Ideologie darin, die Summe der rationalisierten Einzelbetriebe sei das Gemeinwohl. Dagegen rebelliere ich, weil die betriebswirtschaftliche Rationalität im Grunde die konstruktive Vorstellung von einem Gemeinwesen völlig aufgezehrt hat.

Die Zahl Ihrer Verbündeten ist übersichtlich. Während der Begriff Globalisierung geradezu ubiquitär ist, taucht der linke Begriff „Internationalismus“ kaum noch auf.

Wir haben eine ungeheuer aufgerissene Situation. Alte Institutionen, Normen und Lebenshaltungen gelten nicht mehr unbesehen. Neue sind noch nicht da, werden aber gesucht. Ich spreche von einer intensiven kulturellen Suchbewegung, was sich auch in der Not des gegenwärtigen Parteiensystems zeigt. Die alten Loyalitäten sind zerstört. Alte Bindungen sind zerbrochen, aber deshalb hört die Bindungsbedürftigkeit der Menschen nicht auf, ganz im Gegenteil. Ich halte es für möglich, dass diese Bindungslosigkeit, die durch die Marktgesetze hergestellt wird, so etwas wie eine rechtsradikale Option mit erzeugt.

Die Wahlergebnisse in Deutschland sprechen derzeit nicht für diese These …

Den Deutschen geht es erstaunlich gut. Wenn ich in Frankreich oder in England rede, sagen die Leute, was meckerst du über das deutsche System? Ihr habt im Augenblick die stabilste Demokratie, jedenfalls was die Verfahrensrationalität etwa der Gerichtsverfassung betrifft. Das ist richtig. Aber unterhalb dieser offiziellen Ebene brodelt es, und es sind sehr viele Energien beteiligt, die ich als politische Schwarzmarktfantasien bezeichne. Viele Menschen erwarten Erlöser, klare Angebote und die Überwindung der komplizierten Mitbestimmungsprozeduren der Demokratie. Ich spreche von einer Spaltung der Wirklichkeit. In dem einen Teil läuft alles einigermaßen normal. Darunter brodelt es. Hier spielen sich harte Polarisierungen ab, nach links und nach rechts. Der Protest gegen Stuttgart 21 und die Occupy-Bewegung sind Optionen für mehr Demokratie, für Erweiterung der Partizipationsrechte. Es sind Plädoyers für eine Bindungsgesellschaft. Die rechtsradikalen Tendenzen in Holland, Frankreich, Ungarn zielen auf Ausgrenzung, auf Fremdenfeindlichkeit, auf populistische Vereinfachung der Entscheidungsstrukturen.

Sie verwenden in Ihren Arbeiten unter anderem den Begriff Erosionskrise. Wiederholt sich die Geschichte doch?

Ich zitiere meinen alten Freund Ernst Bloch, der sagt, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber wenn etwas nicht Geschichte wurde, dann wiederholt es sich durchaus. Wenn bestimmte Probleme wie die soziale Frage nicht gelöst werden, dann wiederholt sich diese Fragestellung. Die Institutionen sind ja alle noch da, die Familie ist da, die Arbeitsgesellschaft ist da, aber der innere Reformbedarf wird nicht erfüllt, und dann brechen bestimmte Erwartungen zusammen, und wir haben es zu tun mit einer – wie Cicero einmal gesagt hat – Res publica amissa, mit einer vernachlässigten, vergessenen Republik. Wir haben es dann mit Vernachlässigung, mit Vergessen zu tun.

Was heißt das, bezogen auf die Arbeitswelt?

Ich glaube, das Kernproblem besteht darin, dass wir die Marktgesetze wieder in Grenzen betrachten müssen. Man kann den Markt zwar nicht abschaffen. Das haben jaautoritäre Systeme immer wieder versucht, aber der Markt hat natürlich eine Versorgungsrationalität, die gar nicht ersetzbar ist. Kühlschränke gesamtgesellschaftlich zu planen ist unsinnig. Bildungsplanung vorzunehmen ist dagegen sehr sinnvoll. Außerdem müssen wir die Gemeinwesenarbeit endlich als originären Bereich betrachten, der öffentlich finanziert wird. Allen Menschen Bildung und auch Pflege zu bieten, sie nicht als Anhängsel der Warenproduktion zu sehen, ihnen ein würdiges Leben und ein würdiges Sterben zu garantieren – dies hat eine originäre Bedeutung in unserer Gesellschaft.

Wie soll das finanziert werden angesichts der schrumpfenden Zahl von regulären Beschäftigungsverhältnissen? Immer weniger Menschen haben feste Arbeitsplätze, die ihnen langfristig ein sicheres Auskommen garantieren.

Plötzlich hat der Staat Geld, um marode Banken zu stützen. Also für einfache Menschen ist es ja unvorstellbar, dass Hartz IV um lächerliche fünf Euro erhöht wird, während bei der Bankenrettung mit Billionen gerechnet wird. Nur etwa fünf Prozent der Geschäftsaktien an den Börsen und Devisenmärkten beziehen sich auf reale Produktion. Das heißt, ein kompletter Bereich hat sich abgekoppelt vom gesellschaftlichen Lebens- und Produktionszusammenhang, da liegen doch die entscheidenden Probleme.

Jenseits der Intellektuellen, so weit sie einflusslos im Grand Hotel Abgrund sitzen: Wer hat die Macht, dies zu ändern?

Ich mache mir keine Illusionen über den Einfluss etwa von Intellektuellen. Ich benutze immer, wenn ich gefragt werde, ob ich Pessimist oder Optimist bin, die Aussage von Gramsci [Antonio Gramsci, 1891–1937, italienischer Schriftsteller, Journalist und marxistischer Philosoph, d. Red], der im Gefängnis gefragt wurde, ob er Pessimist oder Optimist sei. Und er sagt, auf der Ebene der Analyse und der Theorie bin ich Pessimist, weil der Intellektuelle die Aufgabe hat, die schlechtesten Möglichkeiten der Entwicklung nicht auszusparen. Aber als Praktiker bin ich Optimist. Es gibt kein komplett geschlossenes, intaktes System, sondern die Risse und die Verwerfungen dieses Systems aufzudecken und Veränderungen vorzuschlagen und sich aktiv einzumischen ist die optimistische Seite. Und das ist eher meine Haltung. Warten wir doch nicht immer erst die Katastrophe ab. Die Schärfung des Möglichkeitssinns, dass die Dinge nicht so sein müssen, wie sie laufen, das sehe ich als eine wichtige Aufgabe des politischen Intellektuellen.

Was kann der Einzelne tun, um den explosionsartig wuchernden Formen von Depressionen zu entgehen? Jede dritte Frühinvalidität ist mittlerweile durch psychische Krankheiten verursacht.

Es ist für den Einzelnen schwer, aus diesem depressiven Zirkel auszubrechen, der beispielsweise darin besteht, dass jeder sieht, dass in den Arbeitsagenturen Arbeit vermittelt werden soll, die es nicht gibt. Viele Menschen resignieren deshalb oder werden wütend. Die Wut auf die bestehende Gesellschaft, die mir einen Lebenssinn verweigert, akkumuliert sich immer stärker, wenn der Angstrohstoff in der Gesellschaft wächst. Wenn die Menschen Überlebensängste haben, können sie völlig irrationale Entscheidungen treffen. Die psychiatrischen Krankheiten sind seit 1995 um fast 100 Prozent gestiegen. Sie haben die Dimension einer Gesellschaftskrankheit erreicht. Die Menschen drücken ihren Protest gegen die Gesellschaft nicht aus, indem sie rebellieren, sondern indem sie nach innen gehen. Und das bedeutet natürlich für die Gesellschaft einen Verlust von produktiven Energien. Dagegen anzukämpfen ist ein sehr wichtiger Punkt.

Ist die Depression vielleicht gar keine Krankheit, sondern eine gesunde Reaktion etwa auf eine gestörte Arbeitswelt?

Es ist eine Art Gesundheitsaussage gegenüber dem System. Eine Gesellschaftskrankheit besteht darin, dass die Balance zwischen individuellen und kollektivgesellschaftlichen Entwicklungen gestört ist. Es verläuft so in diesem neoliberalen Betriebsklima wie bei Margaret Thatcher. Die sah keine Gesellschaft mehr, sondern nur einzelne Individuen. Das heißt, die Zerstörung des Gesellschaftsbegriffes gehört noch mit zu dieser Krankheit, weil damit auch die Lösungsmöglichkeiten für eine Befreiung aus der individuellen Isolierung schrumpfen.

Es handelt sich also nicht einfach nur um ein Produkt der Gesundheitsindustrie?

Die Gesundheitsindustrie setzt sich da drauf und verwertet das. Die Verwertungschancen der Gesundheitsindustrie bestehen darin, dass ein kollektives Problem privatisiert wird. Und das gilt auch für die Medien. Menschen, die in ausweglosen Rollen stecken, die wollen die Ausweglosigkeit nicht noch in den Medien bestätigt haben, die wollen nicht am Abend noch etwas Schlechtes, sondern die sehen sich lieber eine Operette als „Othello“ an; die kollektive Verdrängungsleistung von Problemen vollzieht sich in einem spektakulären Ausmaß. Es war ja eine der größten Leistungen des Sozialstaates der Nachkriegszeit, den Menschen die Angst zu nehmen. Sozialstaat und Demokratie sind nicht voneinander zu trennen. Wer den Sozialstaat plündert, wird in einem Jahrzehnt spätestens doppelt und dreifach für den Sicherheitsstaat ausgeben. Das ist ein gefährliches Potenzial.

Haben Sie das auch mal Ihrem Freund Gerhard Schröder erzählt?

Immer wieder. Aber die Resistenzfähigkeit gegenüber Problemen ist ja in der politischen Klasse sehr ausgeprägt. Die sind einfach beratungsresistent. Ich habe das heftig diskutiert mit Gerhard Schröder. Hartz war der falsche Mann dafür. Es wurde eine total falsche Politik verfolgt mit dieser Hierarchisierung nach unten mit Hartz IV. Aber das Dilemma der Politikberatung hat schon mit Plato begonnen. Der wurde von seinem Herrn Dionysios als Sklave verkauft, weil er unzufrieden mit ihm war.

Aber ausgerechnet Ihre ehemalige Partei SPD. Sind Sie nach Ihrem Ausschluss 1961 wegen Ihres Engagements im SDS noch einmal Mitglied geworden?

Nein. Ich bin einmal ausgeschlossen worden und nie wieder eingetreten. Trotzdem habe ich ein gutes Verhältnis zur Sozialdemokratie. Vielleicht gerade durch diese bittere Erfahrung, die mir Unabhängigkeit verschafft hat

Zurück zur Erosion: wodurch wird die Gesellschaft zerstört?

Der Hauptpunkt ist die Kommerzialisierung, der gesamte Produktions- und Lebensvorrat einer Gesellschaft wird warenmäßig organisiert. Dies führt zur Auflösung einer Gesellschaft. Und um sie zusammenzuhalten, da kommen wir auf den Ausgangspunkt zurück, gibt es solche Veranstaltungen wie die Fußballeuropameisterschaft gewissermaßen. Plötzlich bilden sich wieder Nationen. Das hat nicht diesen kriegerischen Charakter, noch nicht, aber das ist nicht auszuschließen. An den Rändern, den Bruchlinien nehmen die Kriege zu. Das ist etwa auf dem Balkan so gewesen. Es ist jedenfalls fatal, dass das Gewinner-und-Verlierer-Syndrom eine so große Bedeutung hat. Auch das kann man sehr gut bei der Fußball-EM studieren. Wie zum Beispiel die niederländische Mannschaft gezeigt wurde, wie sie abzog mit gesenkten Häuptern, so, als ob eine Hinrichtung stattgefunden hat.

Was müsste sich ändern?

Zu viele Energien der entwickelten Gesellschaft sind verzehrt durch Verdrängung. Man beschäftigt sich zu sehr damit, die Strukturprobleme einer Gesellschaftsordnung runterzuhalten. Und deshalb fehlen Energien für die eigene Entwicklung, aber auch für die andere Welt. Der Kapitalismus müsste imstande sein, die eigenen Konkurrenten aufzubauen. Die Länder, die jetzt Hilfe bekommen, müssten so ausgestattet werden, dass nichts passiert. Afrika war noch vor 20 Jahren mit etwa 8 Prozent am Welthandel beteiligt. Dieser Anteil ist auf unter 3 Prozent geschrumpft. Keine Chance auf Konkurrenzfähigkeit. Dabei haben die entwickelten Länder durchaus auch eine Vorbildfunktion. Europa ist ein hohes, verteidigungswertes Gut. Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir mehr als sechzig Jahre keinen Krieg im Zentrum Europas, und um das zu bewahren, müssen einfach alle Anstrengungen unternommen werden. Wie das auszusehen hätte, habe ich in meinem gerade erschienen Buch Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen darzustellen versucht.

Oskar Negt, geboren 1934, Sozialphilosoph und emeritierter Professor für Soziologie, Schüler von Adorno und Habermas, ist einer der führenden Vertreter der Kritischen Theorie. Sein Denken kreist um die Aufarbeitung der notwendigen Krisen des Kapitalismus und deren Symptome sowie die Möglichkeiten, sie in den Griff zu bekommen, insbesondere in den Bereich Bildung, Schulen, Gewerkschaften.