: Wahrhaftigkeit nach allem Gerede
Wahlkampfauftakt in Bremen und das ausgerechnet zum Thema Hartz IV: Nur der WASG-Vertreter kann punkten, der Rest schmiert vor einem empörten Publikum ziemlich ab. Rot-Grün entschuldigt sich irgendwie, die CDU zuckt mit den Schultern
Bremen taz ■ „Die ist routiniert“, raunt es aus der vorletzten Reihe, und es klingt so beeindruckt wie abgestoßen. Da hatte Marie-Luise Beck bei einem wütenden „Aber ihr habt die Gesetze doch gemacht“-Schrei aus dem Publikum schlicht die Arme gehoben und nach einer Sekunde den Satz fortgesetzt, den sie angefangen hatte. Es ging um den Jugendhof Steinkimmen, der regulär beschäftigte Küchenkräfte durch Ein-Euro-Jobber ersetzte. Genau das, was Rot-Grün vermeiden wollte, und doch genau das, was passiert und was vorgestern Abend das Hartz-kritische Publikum lautstark beklagt. Die Bremer Bundestagsabgeordnete der Grünen sieht die Folgen, siehe Steinkimmen, nicht minder kritisch – doch die Empörung erreicht sie offenbar nicht. Sie habe Hartz IV zugestimmt, bekannte sie zu Anfang des Abends, den der Verein „Arbeit und Zukunft“ mit den Bremer Bundestagsabgeordneten und denen, die es werden wollen, in der Ansgari-Kirche organisiert hat. Sie habe, so Beck weiter, jedoch zu keiner Zeit geglaubt, „dass wir damit einen Riesensprung nach vorne kommen“. Doch was soll man machen bei diesem Bundestag? „Bei nur drei Stimmen Mehrheit muss man sich über die Konsequenzen im Klaren sein.“ Hätte sie nicht zugestimmt und zwei weitere auch nicht – „dann wären wir weg gewesen vom Fenster“.
„Das ist einfach platt“, sagt dazu später CDU-Mann Michael Teiser, Bremerhavener Bürgermeister, und er bekommt Beifall dafür. Teiser findet nichts dabei einzugestehen, „dass wir ‘98 die Wahl verloren haben, weil wir die Arbeitslosigkeit nicht in den Griff bekommen haben.“ Das geht in Richtung Volker Kröning, SPD-Abgeordneter, der an diesem Abend vielleicht den undankbarsten Part hat: darzulegen, dass die Situation so schlimm nicht sei wie gemeinhin dargestellt. Die Halbierung der Arbeitslosenzahlen durch die Reformen habe die SPD nie versprochen, „das war Herr Hartz“. Und überhaupt: „Eine solche Reform in einer Zeit der Stagnation zu beschließen, ist eine sehr undankbare Sache.“
Zumindest darin sind sich alle einig: ohne Aufschwung keine Jobs. Auch einig ist man sich über die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe – die war richtig, finden alle. Aber dann. Kommen die Parteiparolen obendrauf. Während die Grüne Beck fordert, sich vom Ziel der Vollbeschäftigung endlich zu verabschieden und ihren Klempner samt seinen hohen Lohnnebenkosten dazu heranzieht, für einen steuerfinanzierten Sozialstaat zu werben, kommt CDU-Mann Teiser mit dem CDU-Modell Kombi-Lohn, und Magnus Buhlert von der FDP wirbt zum x-ten Mal für das Steuermodell der FDP, bis er aus dem Publikum als „Radikaler und Demagoge“ beschimpft wird. SPD-Mann Kröning kommt vor lauter Verteidigung zu nicht mehr viel.
Nur einer, der hatte fast alle auf seiner Seite: Axel Troost von der Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG). „Dieses Land ist reich genug, um an vernünftigen Stellen Geld zu mobilisieren“, so Troost, Hartz IV sei ein „systematisches Verarmungsprogramm für ältere Menschen“, sie bräuchten vielmehr „längerfristig ausgerichtete öffentlich geförderte Beschäftigung“. Durch falsche Politik sei Armut bewusst herbeigeführt worden, rief Troost – Applaus, der Saal ist auf seiner Seite.
Erst gegen Ende wurde es nach allem Gerede plötzlich wahrhaftig. Da trat ein älterer Mann ans Mikrofon, ein alter Vulkanese, arbeitslos seit langem. Gemeinsam mit seiner Frau bekomme er nun 784 Euro ALG II, rund 150 Euro weniger als noch mit Arbeitslosenhilfe. „38 Jahre habe ich gearbeitet und eingezahlt“, sagt der Mann in einen ganz stillen Raum hinein, „und nun werde ich so schäbig behandelt.“ Da schweigen sie alle, sekundenlang. Die späteren Beteuerungen der Politiker, dieser Fehler werde behoben, mildern diesen Moment der Enttäuschung um nichts. sgi