: Sommer des Scheidewegs
Neues von der beliebtesten Weggabelung der Welt: Dichtes Gedränge im Juni
BERLIN taz ■ Alle paar Wochen schauen wir uns am Scheideweg um, was so los ist und wer neu eingetroffen ist an der beliebtesten Wegkreuzung der Welt. Und üblicherweise schreiben wir dann einen kleinen Monatsbericht, der oben auf der Wahrheit-Seite seinen Platz findet. Doch in diesem Sommer ist alles anders. Wahlen stehen an, eine Krise soll stattfinden – und als Resultat ist der gute alte Scheideweg so überfüllt wie lange nicht mehr.
Dabei beginnt es recht harmlos mit einem Kommentar des europapolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Hintze, zur Ablehnung der EU-Verfassung in den Niederlanden: „Europa am Scheideweg“, meldet der in seiner Fraktion „Pfarrer Baldrian“ genannte Hintze am 2. Juni den oft und gern am Scheideweg gesehenen Gast Europa, der von den übrigen Scheidewegelagerern mit lautem Hallo begrüßt wird. Zu denen beispielsweise der FC St. Pauli und der KFC Uerdingen zählen, wie dpa am 6. Juni entdeckt: „Auf Grund ihrer finanziellen Schieflage stehen der FC St. Pauli und der KFC Uerdingen nach dieser Saison am Scheideweg.“ Schieflagen haben schon öfter an den Scheideweg geführt. Es verwundert daher nur wenig, dass wieder einmal der Dauergast Irak am Scheideweg eintrifft, wie der designierte US-Botschafter in Bagdad, Zalmay Khalilzad, am 7. Juni bemerkt: „Der Irak steht am Scheideweg.“
Doch jetzt kommt es ganz schlagzeilendick: „System am Scheideweg“, betitelt Die Welt am 11. Juni eine Beilage. Steht tatsächlich das ganze Schweinesystem am Scheideweg? Nein, zum Glück handelt es sich nur um das Gesundheitssystem, das zwar enorm viel Platz beansprucht, aber zumindest etwas Raum für andere Bewohner lässt.
Der auch dringend notwendig ist. Denn am 14. Juni treffen die ganz dicken Brieftaschen ein: „Deutsche Banken am Scheideweg“, titelt die Süddeutsche Zeitung. Inzwischen gibt es ein heftiges Geschiebe um den verbliebenen Restplatz am Scheideweg, mit den Banken jedoch sind wenigstens alle Sorgen ums Geld am Scheideweg verflogen.
Dass dann mit Beginn des Confed-Cups „Rehhagels EM-Helden am Scheideweg“ auftauchen, wie dpa am 17. Juni berichtet, irritiert längst niemanden mehr. Die griechischen Defensivfußballer sind eine echte Bereicherung in der mittlerweile Schulter an Schulter an der Kreuzung ausharrenden Masse. Tore durch die Griechen fallen allerdings nur wenige.
Dann kommt Deutschland! Wie immer mit aller Wucht und mit der designierten Kanzlerin Angela Merkel, die der FAZ am 24. Juni ein Interview gibt, das die alten Frankfurter Zeitungshasen munter auf die Seite eins nageln: „Deutschland steht am Scheideweg“, brüllt die Schlagzeile hinaus, und allen bereits am Scheideweg Eingetroffenen bleibt nun doch die Luft weg. Das dicke Deutschland auch noch, geht ein Stöhnen durch die Reihen, und erstmals ist ein leichter Widerwille zu spüren: Man könne doch nicht jeden an den Scheideweg lassen, und wenn schon, dann lieber die CDU-Kandidatin allein. Grimmig skandieren die Scheideweg-Bewohner: „Merkel an den Scheideweg!“
Genützt hat es nichts. Aber wir beobachten die beliebte Weggablung weiter, und demnächst werden wir dann auf eine ganz besondere rhetorische Leistung eingehen: „Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.“ Gibt es auch erste Schritte in die falsche Richtung? Wahrscheinlich nur am Scheideweg. MIR