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Archiv-Artikel

Die Schule bleibt im Dorf

Kleine Orte in Brandenburg praktizieren seit Jahren, was demnächst in der Republik Schule machen wird: In „kleinen Grundschulen“ wird jahrgangsübergreifend unterrichtet. Das ist uralt und hochmodern, weil das Lernen mit einem solchen Unterricht individualisiert wird

AUS SCHMÖLLN ANNA LEHMANN

Vom Neonlicht erleuchtet steht Klaus Schrader neben der Tafel. Mit der rechten Hand hält er die Kreide, mit der Linken das rechte Handgelenk. Der Geografielehrer Schrader hat akkurate weiße Rechtecke gezeichnet, die darauf warten, mit Schülerantworten gefüllt zu werden. Die Fünft- und Sechstklässlern vor ihm sitzen in Grüppchen an quadratischen Tischen und drehen die Köpfe erwartungsvoll zur Tafel.

Da ruft jemand von hinten: „Macht mal bitte das Licht aus.“ Das Tafelbild verblasst. Im Dämmer steht Schrader, der Dienstälteste im Hause. Doch gefasst dreht er sich zum hellen Fleck eines Videobeamers hin, der neben der Tafel aufflackert. Er kennt sie, die Zwischenruferin, sehr gut sogar. Seit über 20 Jahren sind sie Kollegen.

Sylvia Griem gibt Mathe, Physik und Informatik. Sie leitet die Grundschule in Schmölln.

Das Dorf liegt in Hörweite der Autobahn nach Stettin im Nordostzipfel Brandenburgs. Einfamilienhäuser, ein Fleischer, ein Bäcker, der Sportplatz, ein sanierter, doch halb leerer Plattenbau und die Schule – das ist Schmölln. Hier, wo die jungen Leute der Arbeitslosigkeit durch Wegzug entfliehen, ist sie Mittelpunkt und Lebensnerv. Damit die Schule im Dorf bleibt, gibt es in Brandenburg seit über zehn Jahren das Modell „Kleine Grundschule“.

Dort werden jeweils zwei Jahrgänge zusammen unterrichtet, nicht selten von mehr als einem Lehrer. Den Schülern der Kleinen Grundschule in Schmölln ist die Situation vertraut: Vorn steht Schrader im weißem Kittel des Fachlehrers, so wie er einst auch ihre Eltern unterrichtet hat. Und unter ihnen sitzt Frau Griem, eine Frau in den Vierzigern, mit zupackenden Armen und einer Schwäche für Elektronik. Sie klackert auf den Tasten ihres Laptops, demonstriert was Powerpoint so alles kann. Als das Licht wieder an ist, setzt Schrader mit Kreide fort. „Wir sind so wenige, da kann nicht jeder seins machen“, erklärt Griem.

Vor acht Jahren haben die sechs Lehrer in Schmölln ihre Anträge und Konzepte für das Modell „Kleine Grundschule“ eingereicht. „Es ist doch egal, ob der Fisch in der fünften oder in der sechsten Klasse drankommt“, meint Sylvia Griem. An ihrer Schule nehmen fünfte und sechste Klasse den Fisch eben gemeinsam durch.

Was nach Pragmatismus klingt, ist moderne Pädagogik. Das jahrgangsübergreifende Lernen wird an mehr und mehr Schulen und über die Grenzen von Schmölln hinaus praktiziert. In Berlin etwa wird ab August die erste und zweite Klasse gemeinsam unterrichtet – die altersgemischte flexible Eingangsphase. Auch andere Bundesländer sind dabei, jenes Modell einzuführen, das Baden-Württemberg wieder salonfähig machte. Denn was bei Geschwistern schon immer funktioniert hat, kann auch in der Schule nicht schaden – die Jüngeren gucken sich ab, was die älteren Schüler können. Und die fühlen sich durch die Kleinen bestätigt, weil sie sie anleiten dürfen. Dazu müssen die Lehrer die Klassen aufbrechen in Lerngruppen und sich um jeden einzelnen kümmern, weil Gleichschritt nicht mehr möglich ist. Individualisierten Unterricht nennt das die Post-Pisa-Pädagogik.

Doch waren die Schmöllner Lehrer nicht dem pädagogischen Fortschritt auf den Fersen, als sie sich entschlossen, jahrgangsübergreifenden Unterricht an ihrer Schule einzuführen. Sie wollten schlicht weiter unterrichten. Aber den normalen Grundschulbetrieb hätten sie nicht aufrechterhalten können. Sonst wäre es ihnen ergangen wie Kollegen aus umliegenden Gemeinden.

Ein Drittel der Brandenburger Schulen verschwand in den letzten 15 Jahren aus dem Schulentwicklungsplan. Infolge des Geburtenknicks nach der Wende und der anhaltenden Abwanderung herrscht chronischer Nachwuchsmangel in ostdeutschen Landstrichen. „Wer was im Kopf hatte, ist gegangen“, sagt die Schmöllner Direktorin.

Ihr Büro ist ganz oben im dritten Stock des Gebäudes, einem Zweckbau der späten 70er-Jahre aus der Produktionsreihe „Schule“. Von dort hat Griem einen famosen Blick über die Umgebung. Sie liebt Aussichten. In ihrer Freizeit ist sie Pilotin. „Dort war früher mein Büro“, ruft sie und zeigt auf die leer stehenden Nebengebäude der Schule. Auf ihrem Schreibtisch liegt ein Aktenordner. Die Direktorin blättert darin, bis sie die Tabelle mit den Schülerzahlen gefunden hat: „1998 waren 32 Schüler in Klasse 6, 2000 sind es 22 und jetzt“, ihr Finger ist ans Ende gesprungen, „jetzt sind es noch 11.“ Und das, sagt sie trocken, werde sich auch nicht mehr ändern. Deshalb musste sich die Schule verändern.

Sylvia Griem war 21, als sie von der Pädagogischen Hochschule in Greifswald nach Schmölln auf ihren ersten Posten beordert wurde. Damals, Anfang der 80er, war alles von oben geregelt. Der Kindergartenplatz für ihre Tochter stand bereit. In der Polytechnischen Oberschule von Schmölln lernten 333 Schüler von der ersten bis zur zehnten Klasse im Gleichschritt mit Marx, Engels, Lenin.

In den Pädagogischen Hochschulen der DDR war niemand darauf vorbereitet worden, zwei Klassen gleichzeitig zu unterrichten. Frontalunterricht war angesagt und die Lehrer waren als Vorbilder und Vorbeter gefragt. „Auch meine Lehrer mussten umlernen“, berichtet Griem.

Der gewohnte Einheitsunterricht passte schlecht in das neue Schulkonzept. In der dritten und vierten Klasse lernen heute Schüler im Alter von neun bis zwölf Jahren zusammen. Einige sind in Schmölln aufgewachsen, andere sind zugezogen, zwei hat das Jugendamt hierher und in Pflegefamilien gesteckt. Selbst in so kleinen Klassen schaffen es die Lehrer nicht, alle Schüler in 45 Minuten geschlossen zum gleichen Stundenziel zu führen. Deshalb haben die Schüler verschiedene Wochenpläne, gewissermaßen als Wegweiser, wo sie nach Ablauf von fünf Tagen stehen sollten. Die Wege zum Ziel sind so individuell wie die Wanderer.

Ausflüge organisiert Sylvia Griem mit Begeisterung. Mit der polnischen Partnerschule ging es im Herbst auf Exkursion zum Schiffshebewerk nach Niederfinow. Da wird aus jahrgangsübergreifendem Unterricht auch ein nationen- und fächerverbindender. „Wir können das prima in den Matheunterricht einbinden, weil wir gerade die großen Zahlen durchnehmen. Und in Physik messen wir Geschwindigkeiten, erklären die Hubkraft, das passt auch.“ Herr Schraders Geografieunterricht profitiert ebenfalls, da die Schüler laut Lehrplan über das Wasserstraßennetz der Bundesrepublik Bescheid wissen sollen. Und für Deutsch und Informatik bietet ein Schiffshebewerk die ideale Steilvorlage für Kurzvorträge, Wandzeitungen und Präsentationen. Alles in bester Eintracht also?

Einige der älteren Lehrer geben zu, dass das mit dem jahrgangsübergreifenden Unterricht bis heute „nicht so ihr Ding“ sei. Im Unterricht sollen sie weniger reden, aber für die Vorbereitung brauchen sie mehr Zeit. Aber man muss ja, um den Standort zu halten, seufzen sie.

Auch die Eltern waren misstrauisch. Einen Rückschritt in die Zeit der Dorfschule befürchtete mancher und fragte sich, ob denn die Schüler alles lernen, was sie wissen müssen. „Wir brauchen uns nicht zu verstecken“, erklärt Sylvia Griem selbstbewusst. „Bei Vergleichsarbeiten schneiden unsere Schüler auf keinen Fall schlechter ab.“ Mit solchen Tests werden die Leistungen der Schüler eines Jahrgangs im ganzen Bundesland direkt miteinander verglichen.

Dass die Kinder aus der Gemeinde Randowtal nicht schlechter abschneiden als andere, rechnen sich die Lehrer als Erfolg an. Griem kennt jeden ihrer 70 Schüler, manche unterrichtet sie in zweiter Generation. Sie weiß über die Familien Bescheid und ist vertraut mit den Problemen, die jahrelange Arbeitslosigkeit mit sich bringt. Kaum eine Familie blieb davon verschont.

Die Zahl derjenigen, die mittags in der Schule essen, sank von Jahr zu Jahr. „Die Eltern sind doch zu Hause und können so jedenfalls das Geld fürs Schulessen sparen“, erklärt Griem. Jeder Theaterbesuch, jeder Ausflug muss lange vorher angekündigt werden, damit die Lehrer das Geld in Raten einsammeln können. Fünf Euro sind hier eine Menge Geld, stellen sie fest. Doch konnten zu Beginn des Schuljahrs wieder alle Viertklässler ins Schwimmlager mitfahren.

Die Schmöllner sind stolz auf ihre Schule. „Sie ist der Motor des Dorfes“, erklärt die Gemeindebürgermeisterin Eva Christ. Sämtliche Jahreseinnahmen fließen in diese über die Wende gerettete Institution.

Manches Relikt wurde zwischen den dünnen Betonwänden konserviert. Ob es nun die Lehrbücher sind, die der Verlag Volk und Wissen im Jahre 1985 für den Werkunterricht herausgab und in denen die Schmöllner Grundschüler immer noch über das Feilen und Spanen nachlesen. Oder der Appell, der ursprünglich dazu diente, alle Schüler im Karree antreten zu lassen. Eine Tradition, die die Schulleiterin einmal jährlich aufleben lässt: „Das ist so ein schöner Anlass um Urkunden zu verleihen.“ Statt „Immer bereit!“ schallt es nun „Sport frei!“ über den Schulhof.

Und noch eine Vorwendetradition darf bei ihr nicht sterben: Alljährlich zum 1. Mai findet in der Schulsporthalle ein Hochsprungwettbewerb mit Musik statt. „Da kommen alle ehemaligen Schüler, sogar die aus dem Westen“, sagt sie stolz. Mario Schmied ist Abschlussjahrgang 1987. „Gleich nach der Wende habe ich rübergemacht“, erzählt er, die Worte hält er nach norddeutscher Art beisammen. Drüben war Arbeit, hier die Heimat. Da sei das Haus der Eltern. Er nickt zum Eigenheim, das er gerade umbaut. Beruflich schult er um, seine Frau versucht sich als Ich-AG. Was wird? – mal sehen. Aber weg will er nicht mehr. „Für die Kinder ist es gut hier.“ Die Söhne laufen mit Wassereimern behelmt durch den Garten. Der älteste geht in die erste Klasse der Schmöllner Grundschule. Seine Eltern sind sich einig: „ Die Schule ist das Beste hier.“