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Archiv-Artikel

Flucht und Gedanken

Er setzt auf Sieg, wo doch alles verloren ist. Nur an einer Stelle gibt der Verstellungskünstler Schröder etwas von sich preis

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Gerhard Schröder offenbart sich an diesem Tag nur ein einziges Mal, und das auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, versteckt hinter einem seltsam formulierten Gedanken. Ansonsten ist das ein Auftritt von hoher Verstellungskunst, den der Kanzler da in der Bundespressekonferenz in Berlin zu absolvieren hat. Ein Regierungschef, der darauf besteht, dass er am Ende ist, dann aber fröhlich als Spitzenkandidat in den Wahlkampf zieht, als habe alles noch einmal einen Anfang, der ein Programm mit sich im Gepäck herumträgt, das er vor ein paar Wochen noch nicht einmal mit spitzen Fingern angefasst hätte, der dabei immerfort lächelt und ruft: Ich gewinne! Ich gewinne! – diese absurde Show wäre womöglich selbst für einen so großen Illusionisten wie David Copperfield eine Nummer zu groß. Für Schröder hingegen, einen der Erfahrensten im Zirkus der Berliner Republik, ist das kein Ding der Unmöglichkeit. Das Gefühl zu vermitteln, er glaube an das, was er sagt, obwohl er weiß, dass alle wissen, dass das Gegenteil der Fall ist – da ist er ganz in seinem Metier.

Aber als der Kanzler fast nebenbei auf die Linkspartei von Gysi und Lafontaine zu sprechen kommt, wobei er es tunlichst vermeidet, die Namen dieser beiden Herren auch nur auszusprechen, in diesem Moment also entfährt dem großen Zurschausteller eine Formulierung, die möglicherweise mehr von ihm verrät, als er preisgeben wollte. Immer dann, wenn es eng und schwierig werde, sagt also Schröder, hätten diese Leute nichts anderes anzubieten als „realisierte Fluchtgedanken“ – „das betrifft übrigens beide Führungsfiguren in diesem komischen Bündnis da“.

Während Schröder sein Programm weiter herunterspult und das „Wahlmanifest“ der SPD in den höchsten Tönen lobt, kommt man plötzlich nicht mehr mit. „Realisierte Fluchtgedanken“ – diese eigenartige Formulierung lässt einen nicht in Ruhe. Warum sagt er nicht einfach „Flucht“? Weil er weiß, dass ein Fluchtgedanke noch lange keine Flucht bedeutet? Weil er die eigenen Fluchtgedanken sehr wohl unterscheiden möchte von den Fluchtgedanken der beiden anderen Herren, die sie „realisiert“ haben, im Gegensatz zu ihm? Spielt Schröder nur ein Spiel mit, aus dem er längst ausgestiegen ist? Oder gehört die Verstellung zur Schlusspointe seines inszenierten Abschieds vom aufrechten Patrioten? Ist die Wahlniederlage quasi sein letzter Dienst an der Partei, weil jeder andere Sozialdemokrat nur noch grausamer verlieren würde als er?

Der Gedanke verfliegt wieder, weil Schröder seine Rolle unbarmherzig weiterspielt. Er bezeichnet das „Wahlmanifest“, das doch deutliche Korrekturen zur Agenda 2010 enthält, ganz ungeniert als „mein Programm“. Franz Müntefering, der in diesen Wochen so unglücklich agierende SPD-Chef, sitzt neben dem Kanzler und verzieht keine Miene. Die beiden sind offiziell die Autoren des 41-seitigen Papiers, sie wissen genau, welche Zugeständnisse an die Parteilinken es enthält. Da muss man noch nicht einmal auf die von Schröder bislang ungeliebten Projekte Millionärssteuer oder Bürgerversicherung verweisen, da reicht schon der Hinweis, dass der verhasste Wirtschaftsminister Wolfgang Clement dem „Manifest“ genauso seinen Segen erteilt wie die linke Galionsfigur Andrea Nahles.

Das kann nicht das Programm eines Agenda-2010-Kanzlers sein. Schröder erklärt jedoch umstandslos, das „Manifest“ biete eine „klare Perspektive zur Fortsetzung unseres Reformkurses“. Es sei ein Beispiel für die „praktische Vernunft“ der SPD. Und es ziele auf die „Mitte der Gesellschaft“. Er lobt sogar die Millionärssteuer, die von den Spitzensozis zur Tarnung nur noch „Einkommensergänzungsabgabe“ genannt wird. „Vernünftig“ sei sie, findet Schröder, und gibt sich davon überzeugt, dass man ein Ehepaar, das 500.000 Euro verdient, „nicht lange bitten muss“, drei Prozent seines Einkommens für Bildung herzugeben. So einfach kann die Welt im Wahlkampf sein.

Der Kanzler zeigt sich an diesem Tag demonstrativ entspannt. Fernsehduell mit Merkel? „Ich stehe zur Verfügung. Darauf freue ich mich.“ Fernsehduell mit Lafontaine? „Ich betrachte das als rhetorische Frage.“ Große Koalition? „Solche Fragen sind doch wieder nur die üblichen Spielchen der Journalisten. Ich bin über 60, ich habe das alles schon erlebt.“ Aber eines schließe er definitiv aus: „Ich jedenfalls werde mit dieser komischen Gruppierung am linken Rand nichts machen, selbst wenn sie im Bundestag sitzt. Das können Sie so schreiben.“

Spricht’s und geht. Zurück bleiben ein paar unrealisierte Fluchtgedanken.