in fußballland : Vom Zurückholen des Spiels
Christoph Biermann über immer neue Generationen von Fußballfans, die das Spiel für sich reklamieren
Im Januar 1990 saß ich in Liverpool im Wohnzimmer von Rogan Taylor und musste warten. Ich hatte mich mit ihm getroffen, um über die von ihm gegründete Football Supporters Association zu reden, als es an der Tür klingelte und ein massiger Mann mittleren Alters hereinkam. Taylor führte ihn in die Küche und ich saß anschließend lange alleine im Wohnzimmer, denn nebenan ging es um Sterben im Stadion. Taylors Gast hatte ein halbes Jahr zuvor seine Tochter im Stadion Hillsborough in Sheffield verloren, als Hunderte von Anhängern des FC Liverpool in einem schon überfüllten Sektor zusammengepfercht worden waren. Vorne standen ihnen die Zäune im Weg, hinten drängten immer mehr Leute nach, 96 Menschen starben. Das älteste Opfer war 67 Jahre alt, das jüngste 10.
Die Football Supporters Association (FSA) hatten Taylor und einige seiner Freunde bereits fünf Jahre zuvor gegründet. Im Heysel-Stadion in Brüssel war es 1985 vor dem Endspiel im Europapokal der Landesmeister zu Angriffen von Anhängern des FC Liverpool auf Fans von Juventus Turin gekommen, die in einem benachbarten Block untergebracht waren. 39 Menschen waren dort bei der anschließenden Panik zu Tode gekommen. Die FSA sagte, dass es nicht so weitergehen könne. Taylor war der Ansicht, die marodierenden Horden seien auch ein Ausdruck der Entfremdung zwischen dem Fußball und seinen Fans. Dass es eine Reaktion darauf sei, wenn man die Anhänger in der Kurve wie Vieh behandeln würde. Dabei wären es doch die Fans, die den Fußball mit ihrer Liebe und Begeisterung tragen würden. Taylor hatte offensichtlich genau die Worte gefunden, die Tausende in England hatten hören wollen und Mitglieder der neuen Organisation wurden. Sie wollten endlich eine Mitsprache im Fußball haben, ihr Slogan hieß: „Reclaim the game!“
Taylor atmete tief durch, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte. Es war schwer mit einem Mann zu reden, der sein Kind verloren hatte. Taylor unterstützte den Hillsborough Disaster Fund, der auch darum kämpfte, die Toten zu rehabilitieren. Die Polizei hatte ihre Fehler auf die Fans abwälzen wollen. Die englische Boulevardzeitung Sun hatte sogar berichtet, dass andere Fans aus Liverpool die Toten bestohlen hatten. Wer in der Kurve stand, galt per se als Gewalttäter und wurde entsprechend behandelt.
Die Selbstorganisation der Fans in England und ihre Beschwerden trafen auch in Deutschland einen Nerv. Hierzulande wollten sich ebenfalls Fans das Spiel zurückholen, ob von Nazis oder von Geschäftemachern. Deshalb wurden in den 90er-Jahren Fanzines gegründet und Fanläden eröffnet, es gab regionale Initiativen und bundesweite Aktionen. Doch fast unbemerkt hat sich seither ein seltsamer Wettbewerb etabliert. Immer neue Generationen im Stadion reklamieren das Spiel für sich und konkurrieren darum, wer gerade die Sachwalter des wahren Fantums ist. Gemessen wird ein Grad der Opferbereitschaft, für den kein Blutzoll zu erbringen ist. Die Verstricktheit in Fußball, wie Nick Hornby sie in „Fever Pitch“ literarisch überhöhte, ist in einfache Formeln übersetzt worden. Wer mehr Spiele seiner Mannschaft gesehen hat und dazu mehr Kilometer gefahren ist, liebt mehr. Wer mehr Stunden damit verbringt, Aktionen im Stadion vorzubereiten, ist ein größerer Fan.
15 Jahre nach Hillsborough ist von der Forderung, das Spiel zurückzuholen, vor allem die Rhetorik der Hingabe geblieben und vielleicht ein Generationskonflikt. Niemand ist so viel Fan wie wir, sagen die jungen Wilden, die sich zumeist unter dem Fähnlein der Ultras sammeln. Auch Rogan Taylor ist immer noch Fan des FC Liverpool, inzwischen leitet er die Football Research Unit der Universität seiner Heimatstadt.