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Archiv-Artikel

Die besten Freunde kommen nie zu Besuch

Viele Jugendliche knüpfen ihre sozialen Beziehungen hauptsächlich im Internet. Sehr bequem: Wer stört, wird weggeklickt. Wirkliche Nähe kann so nicht entstehen

VON JULIANE GRINGER

„Ich komme so um halb zwei von der Schule nach Hause“, erzählt „wishmaster“, 17 Jahre alt. „Ich esse was, ab 14 Uhr ist der PC an, ab 18 Uhr chatte ich, mindestens bis Mitternacht. Ich habe zwar noch reale Freunde, aber mache so gut wie nie etwas mit denen, höchstens zwei-, dreimal im Monat. Leute treffe ich nur im Netz.“

„Wishmaster“ glaubt, dass er onlinesüchtig ist. Der Computer hat sich so sehr in seinen Alltag gegraben, dass er nicht mehr mit seinen Freunden Fußball spielen geht, dass er die zehnte Klasse wiederholen muss, dass er aggressiv wird, wenn seine Eltern ihn darauf ansprechen, die Freunde ihn schon gar nicht mehr fragen, ob er zu einer Party mitkommt. Der Chat lässt ihn glauben, dass seine Freunde im Internet zu finden sind. Auch wenn er schon gemerkt hat, dass sich das nicht echt anfühlt.

Geteilter Freundeskreis

Wie viele, die regelmäßig chatten, hat „wishmaster“ einen beachtlich großen Online-Bekanntenkreis. Kaum ein Chat oder Dating-Portal kommt – neben dem Versprechen auf den Traumpartner – ohne den Claim „Freunde finden“ aus. Sind es wirklich Freunde, die da irgendwo hinter Bildschirmen hocken?

Kommt auf die Definition von Freundschaft an. „Viele Jugendliche bauen sich zwei Freundeskreise auf: einen im schulischen und nachbarschaftlichen Umfeld, einen im Internet“, sagt Uwe Buermann, freier wissenschaftlicher Mitarbeiter des gemeinnützigen Instituts für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie (IPSUM). Die Chat-Bekanntschaften zählen demnach auch als Freunde, denen ebenso Erlebnisse, Probleme und Geheimnisse anvertraut werden.

Es dürfte jedoch wenig Zeit bleiben, um die „realen“ Freunde auch noch zu treffen. Jeder Jugendliche verbringt im Durchschnitt 59 Minuten pro Tag im Netz – egal ob er regelmäßiger User ist oder nicht. Dazu kommen noch mal 163 Minuten Radiohören und 117 Minuten Fernsehgucken. In Deutschland haben 86 Prozent der Jugendlichen ein eigenes Handy, 34 Prozent einen eigenen Internetzugang, 85 Prozent Zugriff auf einen im Haushalt.

Ingo Kruck aus der Communityleitung von chat.de und flirtspion.de, zwei Portale, bei denen 70 Prozent der Nutzer Jugendliche sind, glaubt, dass die Internetfreundschaften deutlich intensiver sein können als Freundschaften „im klassischen Sinne“. „Der Kontakt unter den Chattern ist sehr vertraut“, so Kruck. Die Anonymität im Chat bewertet er positiv: Dadurch falle es den Jugendlichen leichter, Emotionen und Probleme mitzuteilen. Im Chat erfahren sie Selbstbewusstsein und Bestätigung. Er hat auch beobachtet, dass es bei vielen Chatfreundschaften irgendwann zu einem Treffen kommt. „Wir wollen uns vielleicht mal im engsten Kreis treffen“, erzählt „wishmaster“. „Wir telefonieren nie, wozu auch? Man sieht sich ja jeden Abend im Netz.“ Er vergleicht die Online-Freundschaften nicht mit „realen“. „Real, im Sinne von: Hey, ich komm gleich mal bei dir vorbei – nee, das ist es nicht.“

Uwe Buermann glaubt ebenfalls nicht daran, dass „virtuelle“ Freunde zu realen werden. „In den Chats bauen sich so gut wie alle eine Art eigene Identität auf“, so der Pädagoge. „Für Jugendliche ist es doch viel zu verführerisch, unbeobachtet in andere Rollen zu schlüpfen, eigene Schwächen verbal auszubügeln.“ Dann wird eben der klischeehafte picklige Brillen- und Zahnspangenträger, 14 Jahre alt und ohne jegliche Erfahrungen in Bezug auf das andere Geschlecht, zum Womanizer mit Superfigur und geraden Zähnen, gerne auch schon mal 19 und mit einem schnellen Auto vor der Tür. Eine äußerst schlechte Ausgangslage für ein Treffen im wirklichen Leben. „Lügt man in einem großen Chat, juckt das niemanden, es gehört zur Tagesordnung“, sagt „wishmaster“. „Wenn man aber in einem Freundeskreis, wie ich ihn habe, anfängt zu lügen, und es kommt raus, wird man schnell ausgegrenzt.“

Die meisten Chats haben eine Funktion, mit der man einzelne Mitglieder gezielt „ausschalten“ kann und danach keine Nachrichten mehr von ihnen erhält. Diese Funktion wird auch gern genutzt, wenn Onliner unliebsame Kritik üben. Buermann sieht darin die große Angst vor Konflikten, die die ganze Gesellschaft im Moment bewege und mit der Jugendliche aufwachsen. „Kritik ist heute unerwünscht, auch wenn sie konstruktiv ist. Und es ist nirgendwo so einfach, ihr aus dem Weg zu gehen, wie im Chat.“

Dass viele Chatter in eine virtuelle Welt abgleiten und ihre Freunde vernachlässigen, glaubt Ingo Kruck von chat.de nicht. „Es ist seit längerer Zeit ein großer Trend, gemeinsam am Rechner zu chatten, vor allem bei weiblichen Teenagern ist das sehr beliebt. Freundschaften, die sich vertiefen sollen, krönt man dann mit einem Treffen“, glaubt er. Er verweist auf die unzähligen Liebschaften und Beziehungen, die in Chats entstanden sind – und eben auch Freundschaften. Der Chat werde seiner Meinung nach nur „in den Medien als niedere Kontaktform unter Menschen betrachtet“. Er könne das in keiner Weise nachvollziehen. Und wohl auch die meisten Chatter nicht.

Selbstwert im Posteingang

Auch wenn für die meisten Teenager die Online-Welt heile scheint – ein ungutes Gefühl bleibt ihnen allen. So wie die Zahl der eingegangenen SMS auf dem Handy pro Tag, die Länge der Buddy-Liste bei AOL oder die Menge der ICQ- und MSN-Partner – alles Messenger-Angebote – unbewusst den eigenen Beliebtheitsgrad messen, tut es auch der Chat. Bei den Messengern hat es mehr Verbindlichkeit, die Plauderfreunde stammen meist aus dem persönlichen Umfeld. Gerade deshalb verursacht es mehr Unbehagen, wenn da die Postkästen mal leer bleiben.

Natürlich eröffnen Chats auch Möglichkeiten. Schüchterne finden Zuspruch, den sie im wirklichen Leben selten oder zumindest deutlich schwerer bekommen. Ob sie das so gewonnene Selbstbewusstsein dann aber auch in reale Beziehungen transportieren können?

Reizvoll sind neue Medienangebote am Anfang immer. Dieser Reiz geht aber auch für die meisten schnell wieder verloren. Andere bleiben dabei. Und glauben an die Existenz der Onlinefreundschaften. „Im normalen Leben haben Beziehungen sowohl Hochs als auch Tiefs. Bei den Online-Beziehungen fehlen in der Regel die Tiefs. Im Chat kann man, wenn man will, so gut wie immer der Star sein“, so Buermann. Die Gefahr: Es mangelt an Verbindlichkeit. Echte Freundschaften fordern auch Engagement ein: sich selbstlos für den anderen einsetzen und ihm helfen, wenn es ihm schlecht geht – statt egomanischer Selbstdarstellung und damit verbundener ständiger Erweiterung des Freundeskreises.

Dass Internet und andere neue Medien so durchschlagenden Erfolg haben konnten, dass Kommunikationssüchte immer mehr zunehmen, gerade in den letzten Jahren, das lässt sich wohl mit den veränderten Bedürfnissen der Nutzer erklären. „Die totale Konfliktvermeidung, die jetzt herrscht, könnte auch eine Antwort sein auf die übersteigerte Konfliktbereitschaft der vorigen Generation“, glaubt Uwe Buermann. Aus der 70-Jahre-Diskussionskultur sei Egomanisierung geworden. „Spaß ist gefragt, dauerhafte Beziehungen schränken schnell mehr ein, als dass sie Halt geben.“ Dies alles leben die Erwachsenen vor. „Immer mehr Jugendliche erleben Eltern, die nicht in Konflikte investieren wollen“, so Buermann. „Die Medien bedienen immer mehr die Bequemlichkeit.“ Die Suche nach der eigenen Persönlichkeit wird schwieriger, weil Vorbilder fehlen, die die Frage ‚Wer bin ich‘ öffentlich beantworten. Trotzdem glaubt der Pädagoge daran, dass Jugendliche auch in dieser veränderten Zeit selbstsicher groß werden können. „Am Ende ist es vielleicht wieder der Griff ins Bücherregal, der einen auf die Spur solcher Vorbilder bringt.“