: Das Dilemma der SPD
Warum Schröder wählen? Das Wahlmanifest der Sozialdemokraten gibt keine Antwort auf diese Frage und schwankt zwischen Reformen von gestern und Politik von morgen
Schon der Titel der Broschüre mutet wie ein schlechter Scherz an. Nach dem Vertrauenskampf um Misstrauen, soll das Wahlvolk nun „Vertrauen in Deutschland“ beweisen und demjenigen, dem die Fraktion feierlich das Misstrauen erklärte, Vertrauen entgegenbringen. Vertrauen ist ein Wechselbalg. „Wir haben Vertrauen in Deutschland“, mag den „Standort Deutschland“ freuen, die Bundesratsmehrheit beeindruckt derlei nicht. Die Frage ist doch, wer unter den Wählern noch Vertrauen zur SPD hat.
Nun hat es sogar das Justemilieu der Hof- und Regierungsintellektuellen gemerkt: In ihrem kuscheligen rot-grünen Projekt der „neuen Mitte“ war von Anfang an der Wurm drin. Statt einer politischen Strategie zur Überwindung der Lähmung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft hatte das rot-grüne Personal nur PR-Projekte, um sich selbst in Szene zu setzen – die einen mit der Suche nach einem neuen atomaren Endlager, die anderen mit dem Autokanzler und dem Sparhans. Wirtschafts- und sozialpolitisch geschah die ersten vier Jahre gar nichts Substanzielles, und in der zweiten Legislaturperiode holte man dann mit der „Agenda 2010“ zum ultimativen Schlag aus, der in der Sache – sozialverträglicher Umbau der Sozialsysteme und Subventionsabbau statt milliardenschwerer Steuergeschenke an die Wirtschaft – daneben ging und die falschen Personengruppen schröpfte.
„Die Partei“, das heißt rund ein Dutzend Baracken- und Kanzleramtsbeamte, hat zusammen mit Schröder und Müntefering ein 41-seitiges „Wahlmanifest“ mit 24 Kapiteln und einer Grundsatzerklärung vorgelegt. Die Grundsatzerklärung ist dürftig. Der Abschnitt über den „neuen Fortschritt“ plündert Oskar Lafontaines Buch „Der andere Fortschritt“ (1985), hängt aber – im Unterschied zu diesem – noch völlig an der Ideologie, wonach Wachstum automatisch Arbeitsplätze schaffe. Dass Vollbeschäftigung und Wachstum im herkömmlichen Sinn längst zu Albträumen geworden sind, hat die SPD noch nicht mitgekriegt. Der „kleine Parteitag“ nickte die SPD-Wunschtüte am Montag einstimmig ab. Andrea Nahles wusste schon vor Sitzungsbeginn, dass „die ganze Partei“ damit einverstanden sei. Die Schwundstufe von Demokratie heißt SMP – Schröder-Müntefering-Partei.
Die Agenda 2010 ist für die SPD-Wahlkämpfer immer noch „das wichtigste Reformkonzept“, obwohl mehrere Landtagswahlen deutlich gemacht haben, was Wähler von der konzeptionell unausgegorenen, sozial schief liegenden und organisatorisch chaotischen Hartzerei halten. „Wir setzen“ die Reform „konsequent um und entwickeln sie weiter“, heißt es trotzig. Im sozialdemokratischen New-Speak bedeutet „weiterentwickeln“ jetzt genau das zu tun, wogegen man sich sieben Jahre gesträubt hat. Plötzlich soll es gesetzliche Mindestlöhne geben, „eine private Erbschaftssteuer“ sowie eine Reichensteuer. Deswegen von einem Linksrutsch zu reden, ist unsinnig. Die Noch-Regierenden machen jetzt Opposition gegen das, was sie selbst sieben Jahre lang vertreten haben. Vertrauensfördernd ist dieser Fallrückzieher ins eigene Tor auch dann nicht, wenn man einräumt, dass die grünen Koalitionäre, die alles geschluckt haben, was ihnen Clement & Co einbrockten, noch panischer von neoliberal auf sozial umgesattelt haben angesichts der Konkurrenz von Linkspartei/PDS/WASG. Die tauchen im Wahlmanifest wie die Ketzer im Katechismus nur als „Demagogen“ auf.
Die „Reichensteuer“ ist ein Trostpflaster für die jahrelang gedemütigte Parteilinke. Allerdings muss man schon viel blindes Vertrauen aufbringen, um das enorme Gefälle zu übersehen: 50 bis 60 Milliarden Steuergeschenke gingen an die Wirtschaft, ganze 1,2 Milliarden wird die Reichtumssteuer einbringen. Das zahlen die Betroffenen aus der Portokasse. Bei einem strukturellen Haushaltsdefizit von etwa 40 Milliarden Euro ist diese „Reichensteuer“ eine schlicht zu vernachlässigende Größe. Dieselbe Augenwischerei bei der Erbschaftssteuer, die „umzugestalten“ man verspricht, keine Zahlen nennt, aber das Vorhaben schon mal unter den Pauschalvorbehalt der „Verfassungsfestigkeit“ stellt. Das ist entweder selbstverständlich, dann kann man den Vorbehalt weglassen, oder ein probates Hintertürchen.
Jeder Lehrling in der Steuerberatungsbranche lacht laut, wenn er von der „rechtsformunabhängigen Besteuerung der Personengesellschaften“ hört, mit der unterschieden werden soll „zwischen der Besteuerung des Unternehmens und des Unternehmers“. Fantasiegeleitete, buchstäblich doppelte Buchführung und hoffnungslos unterdotierte Finanzämter machen ein solches Vorhaben aussichtslos. Ebenso gut könnte man die Selbstständigen anflehen, um des Wohls des Gemeinwesens willen haarscharf zu trennen zwischen Privat- und Betriebsausgaben.
Bei der Krankenversicherung ist vom ursprünglichen Konzept einer Bürgerversicherung, die die Arbeitgeber nicht aus der sozialen Mitverantwortung entlässt und alle Bevölkerungsgruppen (also auch Selbstständige, Beamte, Besserverdienende) ohne privilegierende Beitragsbemessungsgrenzen einbezieht, nicht viel übrig geblieben. Beiträge auf Kapital- und Nebeneinkünfte (etwa Mieten), wie sie die Nahles-Kommission noch vor einem Jahr vorschlug, sind nicht vorgesehen, und schon gar nicht eine „Maschinensteuer“, um die Unternehmen in den gesellschaftlichen Solidarpakt für Gesundheit, Pflege und Alterssicherung einzubinden.
Warum soll man SPD wählen? Weil das Bafög ein Stipendium bleibt und nicht zum Darlehen gemacht wird? Weil eine „schrittweise Gebührenfreiheit für Kindergärten“ versprochen wird? Weil keine Studiengebühren erhoben werden sollen? Weil die Steuern für Kapitalgesellschaften von 25 auf 19 Prozent gesenkt werden? Weil das bisherige Erziehungsgeld für ein Jahr auf ein „bezahltes Elterngeld mit Einkommensersatzfunktion“ umgestellt wird? Versprechen und Forderungen in dieser Preislage stehen in einem Widerspruch zur Großspurigkeit, mit der Müntefering einen „Richtungswahlkampf“ ankündigt. Welche dieser Forderungen ist denn – im Prinzip – nicht kompatibel mit jenen der Unionsparteien?
Richtig peinlich wird das „Wahlmanifest“ der SPD, wenn es programmatisch trompetet: Hier bewegen sich die Kernaussagen auf einem intellektuellen Niveau, das selbst für Wahlkampfbroschüren ausgesprochen niedrig liegt: „Wir akzeptieren nicht, dass Geld die Welt regiert.“ „Wir dulden keine Zwangsheirat.“ „Wir sind gegen die Existenz von Parallelgesellschaften.“ Gut gebrüllte Lebkuchenverse! Aber wenn man gegen etwas ist, was schon in vielfältiger Form existiert, wäre es hilfreich zu wissen, mit welchen finanziellen, rechtlichen, politischen Mitteln Abhilfe geschaffen werden soll. Schweigen dazu bei der SPD.
Die Sozialdemokraten sind auch nicht zu beneiden. Mit dem Parforceritt des Führungsduos geriet die Partei in das ausweglose Dilemma, zugleich die bisherige Politik verteidigen und eine „neue“ ankündigen zu müssen.
RUDOLF WALTHER