: Ein sonniges Gemüt
EIGENSINN In „Copacabana“ ist Marc Fitoussi so klug, Isabelle Huppert viel Raum für die Entwicklung eines ihrer im besten Sinne des Wortes merkwürdigen Charaktere zu geben
VON WILFRIED HIPPEN
Außerhalb der Saison ist Ostende bestenfalls eine graue Karikatur des so oft besungenen Strandes von Rio de Janeiro. Und genauso wird die belgische Touristenfalle hier auch vorgestellt, wenn der Regisseur Marc Fitoussi die Geschäfte der Strandpromenade geschlossen und bei nasskaltem Wetter zeigt und dazu eines der sonnigen brasilianischen Lieder erklingen lässt. Für die Frau, die von allen nur Babou genannt werden will, ist dies aber kein zynischer Scherz. Sie träumt so radikal von ihrem Sehnsuchtsort Brasilien, dass sie sich durch das bisschen armselige Realität kaum aus ihrer eigenen Welt herausreißen lassen wird. Als eine eigenwillige, willensstarke, skurrile aber auch smarte und charmante Frau hatte sie bisher ihr Leben im Griff, auch wenn sie als chaotische Gelegenheitsarbeiterin, die spätestens nach ein Paar Tagen aus jedem Job heraus fliegt, für die kleingeistigen Gemüter eine rettungslos gescheiterte Existenz ist. Sie hat viel erlebt und von der Welt gesehen – nur nach Brasilien ist sie bislang noch nicht gekommen. Sie hat auch eine Tochter, die sie mit dem ihr eigenen Überschwang Esméralda getauft und und die nun als Erwachsene – raten Sie mal – so spießig leben möchte wie nur irgend möglich und sich für ihre Mutter schämt. Selbst auf ihrer Hochzeit will sie sie nicht haben, und dies ist vielleicht das einzige, das Babou aus der Bahn werfen kann.
Um es also ihrer Tochter zu zeigen, nimmt sie einen Job bei einer Familienfirma an und wird von dieser ins belgische Ostende geschickt, um dort Kunden für Ferienappartements anzuwerben. Hier soll kein weiteres Wort darüber verloren werden, wie komisch und souverän sie diese Aufgaben bewältigt. Dies ist eh einer von jenen Filmen, bei denen die Geschichte eher zweitrangig ist. Stattdessen geben sich die Filmemacher aber große Mühe dabei, jede einzelne Szene so authentisch, intensiv und interessant zu inszenieren, dass man diese Menschen schon nach ein paar Minuten gut zu kennen meint. Da sind ein paar belgische Hafenarbeiter, mit denen Babou gleich in ihrer ersten Nacht in Ostende Freundschaft schließt. Da ist die fadenscheinige Firma, deren hässlichen Betonneubau Babou den Touristen auf der Straße schönreden muss, da sind ihre Vorgesetzten und Kolleginnen, die solch einen Paradiesvogel wie sie bestimmt nicht gleich ins Herz schließen und da sind ein Paar junge Tramper, die in der Kälte bei einer Mülltonne übernachten müssten, wenn Babou nicht den Schlüssel zu einem der Appartements hätte.
Ihnen fühlt sie sich am nähesten, und in den Szenen mit dem jungen Paar zeigt Isabelle Huppert eine zärtliche Fürsorge, die man so wohl noch nie bei der Schauspielerin gesehen hat, die wohl alles kann, außer ungebrochen sympathisch zu wirken. Dies war einer der Gründe dafür, warum sie so gut mit Chabrol zusammenarbeitete, denn der hat nie „nette“ Menschen in seinen Filmen auftauchen lassen. Auch Babou kann eine ziemliche Plage sein und im ersten Akt bekommt Isabelle Huppert Gelegenheit, ein paar Kleinbürger so zu brüskieren, dass man fast schon die Geduld mit ihr verliert und beginnt sie als einen durchgeknallten Sozialfall zu sehen. Ihre Entwicklung wird so subtil und natürlich in Szene gesetzt, dass man immer wieder von dieser Frau überrascht wird. Dies geht ihrer Tochter nicht anders und in einer der wenigen Szenen des Films, in denen Isabelle Huppert nicht im Mittelpunkt steht, belauscht sie ein Gespräch der beiden Arbeitskolleginnen ihrer Mutter, die sich bitter über diese ihnen haushoch überlegenen Konkurrentin beklagen. Da leuchtet großer Stolz in den Augen von Lolita Chammah auf und dieser Moment gehört zu den schönsten des Films. Wenn man die beiden zusammen sieht, mag man kaum glauben, dass die eher robust wirkende Lolita Chammah tatsächlich die Tochter von Isabelle Huppert ist, doch gerade deswegen ist diese Paarung im Film so effektiv. In ihren gemeinsamen Szenen streiten die beiden fast nur, und wie komplex ihre Beziehung ist, wird eher im Tonfall als in den Dialogsätzen vermittelt.
Solche Nuancen gehen meist in den Synchronfassungen verloren, und so kann man den kleinen Filmverleih Kairos in Göttingen nur dazu gratulieren, den Film nur in der Originalfassung mit Untertiteln in die Kinos zu bringen.