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Archiv-Artikel

Bis zum Schwarzen Meer und weiter

LESUNG Die Autoren Olga Grjasnowa und Michal Hvorecký reisten mit „Grenzgänger“-Stipendien gen Osten. Am Dienstagabend lasen sie im Literarischen Colloquium aus den Romanen vor, die sie auf der Grundlage ihrer Recherchen geschrieben haben

Olga Grjasnowa hat Panikattacken erforscht – in einer emotionalen Recherche

Der Mensch fühlt sich wohl in abgezirkelten Räumen. Er schafft Kategorien, setzt Ziele, zieht Grenzen. Aufregung überfällt ihn erst, wenn er diese Abgeschlossenheit überwindet. Mit dem Förderprogramm „Grenzgänger“ unterstützen das Literarische Colloquium Berlin und die Robert-Bosch Stiftung Autoren, die zur Recherche für eine deutschsprachige Publikation die Landesgrenzen gen Osten verlassen möchten. Bei einer Lesung am Dienstagabend präsentierten die Stipendiaten Michal Hvorecký und Olga Grjasnowa ihre Werke, die nicht nur territoriale Grenzen überschreiten.

Der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecký ist in Bratislava aufgewachsen, am Ufer der Donau. „Ein Schiff ist aus literarischer Perspektive ein sehr anziehender Ort“, sagt der Autor, bevor er aus seinem Roman „Tod auf der Donau“ liest. Die Hauptfigur Martin Roy ist ein finanziell gescheiterter Übersetzer, der sich als Tourdirektor auf dem Kreuzfahrtschiff „MS Amerika“ verdingt. Abhängig von Trinkgeldern und den Bewertungen seiner Fahrgäste, gibt er seine Persönlichkeit auf und nimmt die Rolle eines untertänigen Reisebegleiters mit antrainiertem Lächeln ein, dessen er sich kaum mehr entledigen kann. Die Passagiere sind alte, reiche Amerikaner, deren Wichtigtuerei und Dummheit im Mikrokosmos des Luxusliners nicht lächerlich erscheinen, sondern als Statusmerkmale ihrer Macht an Deck.

Zwei Jahre an Bord

„Zwei Jahre lang habe ich selbst auf einem solchen Schiff gearbeitet“, erzählt Michal Hvorecký amüsiert. Die überspitzte und komisch-derbe Darstellung der amerikanischen Passagiere bezeichnet er als „weitgehend realistisch“. Mit Hilfe der „Grenzgänger“-Förderung erforschte Michal Hvroecký die Donau auf einem Schiff ohne Passagiere bis zur Mündung ins Schwarze Meer. Das Härteste am Arbeitsalltag an Deck ist die fehlende Distanz zu den Gästen. Mit dem Verlust der Privatsphäre büßt der Reisebegleiter auch seine eigene Wesensart ein. Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit, Traumwelt und Realität, Dienststelle und Zuhause verwischt, das Individuum Martin Roy löst sich hinter der Maske des Bediensteten auf.

Eine andere Form der Entgrenzung erfährt die Figur Mascha in „Der Russe ist einer, der Birken liebt“. Die junge Autorin Olga Grjasnowa skizziert im Gespräch mit der Literaturkritikerin Wiebke Porombka die Zerrissenheit ihrer Protagonistin. Während eines Bürgerkriegs Mitte der 90er Jahre in Aserbaidschan erblickt das Mädchen die Leiche einer jungen Frau auf der Straße. Das Trauma verfolgt Mascha auch nach Deutschland, wohin sie wenig später mit den Eltern auswandert. Im Alter von etwa zwanzig Jahren erleidet sie einen weiteren Schicksalsschlag: Ihr Freund Elias, mit dem sie zwar zusammenlebt, aber nicht über ihr Problem sprechen kann, kommt ums Leben. „Das alte Trauma wird mit dem neuen gleichgesetzt“, erklärt Grjasnowa in nüchternem Ton. Maschas Angstzustände bündeln sich im Angesicht eines einzigen Moments: des Tods.

„Mascha leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ich habe mich intensiv damit beschäftigt, wie Panikattacken aussehen und wie sie sich anfühlen, in einer Art emotionalen Recherche“, teilt Olga Grjasnowa dem Publikum mit.

Der fluchtartige Aufbruch nach Israel kann Mascha nicht zerstreuen. Am Flughafen Ben Gurion schießen Sicherheitsleute auf ihren Computer, wegen Terrorverdachts. Selbst in das repressive Verhör schleicht sich das Jenseits ein. Die Beamten zeigen sich gehässig, weil die Jüdin kein Hebräisch spricht, sondern Arabisch. Ob ihr Freund Araber sei, wird Mascha mehrmals gefragt. Er ist tot, antwortet sie, und erntet nur weitere Skepsis.

Gespräche mit Zeitzeugen

Das Stipendium des LCB ermöglichte Olga Grjasnowa unter anderem, ihr Geburtsland Aserbaidschan zu besuchen. In Archiven und bei Zeitzeugen suchte sie nach einer Wahrheit, die die einseitige Geschichtsschreibung aufbricht. Michal Hvorecký äußert immer wieder seine Dankbarkeit: „Heute Nachmittag haben sich hier mehr Stipendiaten versammelt, als es in der Slowakei womöglich je gegeben hat.“ Die per Stipendium finanzierte Recherchereise diente den Autoren Olga Grjasnowa und Michal Hvorecký als Mittel für den eigentlichen Trip: den geistigen Grenzgang. FATMA AYDEMIR