: So langsam wie möglich
Ein grelles Pfeifen tönt aus der St.-Burchardi-Kirche in Halberstadt, Sachsen-Anhalt. Tag und Nacht schrillt der schräge Akkord aus c’, des’ und as’ aus drei kleinen Orgelpfeifen im rechten Schiff des ansonsten kahlen Gotteshauses, das zu DDR-Zeiten als Schweinestall genutzt wurde. Der nervtötende Sound ist keine Aktion der Bundesanstalt für Materialprüfung, sondern das längste Musikstück der Welt – und gleichzeitig der Beweis, dass oft die Provinz der richtige Ort für abgedrehte Projekte ist.
Seit 2001 spielt die Orgel in der St.-Burchardi-Kirche von Halberstadt. Das Stück heißt „As Slow As Possible“ und soll noch bis ins Jahr 2639 dauern. Der Experimentalmusiker John Cage hat es geschrieben und außer den Tonhöhen nur eine Anweisung gegeben: Man möge es so langsam wie möglich spielen.
Halberstadt ist die Wiege der modernen Musik: Im Jahre 1361 wurde im Dom der Stadt die erste Blockwerksorgel der Welt fertiggestellt – erstmals mit einer 12-tönigen Klaviatur, wie sie heute auf Tasteninstrumenten Standard ist. Das war im Jahre 2000 genau 639 Jahre her – und genau deswegen dauert das Stück auch 639 Jahre.
John Cage, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, forderte das traditionelle Musikdenken seiner Zeitgenossen heraus: Für ihn war jedes Geräusch Musik. Er schrieb Stücke, die aus Wasserschlürfen oder Gemüsehacken bestanden, oder das berühmte „4’33“, das aus vier Minuten und 33 Sekunden Stille besteht. Aber was heißt Stille: Auch wenn es keine mit Absicht gespielten Töne gibt, so gibt es trotzdem Geräusche: Rascheln oder Husten im Konzertsaal, Rauschen und vielleicht eine Sirene aus der Ferne – alles Musik!
Dementsprechend begann auch das Stück „As Slow As Possible“ am 5. September 2001 erst mal mit einer Pause. Erst am 5. Februar 2003 kam der erste Akkord aus gis’, h’ und gis’’. Cage hat das Ganze per Zufall komponiert, per Computer, deswegen klingen die Akkorde mal mehr, mal weniger schön.
Und was soll das in Halberstadt? Cage war nie hier. Die Ortswahl überrascht jedoch nur auf den ersten Blick. Nicht nur wegen der Klaviatur-Erfindung, was übrigens einer gewissen Ironie nicht entbehrt, da Cages Lehrer Schönberg versuchte, die traditionelle Hierarchie in der Tonleiter aufzulösen. – Sondern gerade, weil Halberstadt in der Provinz liegt. Ein so langwieriges Stück würde in eine nervöse Metropole wie Hamburg oder Berlin überhaupt nicht passen.
Am 5. Juli, also kommende Woche Freitag, steht der nächste Klangwechsel an – der 13., wenn man die Stille am Anfang mitzählt (wie es John Cage tun würde). Dann schrillt in der Kirche ein a’, c’’ und fis’’. MALTE GÖBEL