: Spielzeit nach der Spielzeit
THEATER-FESTIVAL Präsentationsplattform und Forum für eine frische Theaterszene: Das Hamburger Kaltstart-Festival präsentiert im Schanzenviertel zwei Wochen lang junge Schauspieler, Dramaturgen, Autoren und Regisseure in über 50 Produktionen
VON ROBERT MATTHIES
Wenn die jungen Leute nicht mehr ins Theater kommen, so die Idee, dann muss das Theater eben dorthin gehen, wo die jungen Leute sind. Nicht nur den Bühnenvorhang, sondern auch die Fenster und Türen zur Straße haben der Schauspieler Florian Hänsel, die Theaterwissenschaftlerin und Regisseurin Eva Baumeister und der Kulturwissenschaftler und Regisseur Gero Vierhuff vor sechs Jahren im Kulturhaus 73 in der Schanze für ihr erstes Kaltstart-Festival ganz weit aufgerissen. Frische Schauspielluft und vor allem ein unverbrauchtes Publikum wollten sie für ihre Spielzeit „nach der Spielzeit“ vor die Bühne holen.
Aber nicht nur ein neues Publikum wollten die drei jungen Theatermacher_innen mit dem neuen Spielort im Szene-Viertel-Club für Schauspiel, Tanz, Pantomime, zeitgenössische Dramatik und Hörspiel begeistern. Sondern auch eine Plattform schaffen, auf der sich eine ebenso junge und unkonventionelle Szene aus freien und schon etablierten Bühnenkünstler_innen ganz ohne Angst, Zwänge und Konkurrenz um Auszeichnungen präsentieren und ausprobieren, über Form und Inhalt diskutieren, Erfahrungen austauschen und vernetzten kann.
Ein Konzept, das weit über die Stadtgrenzen hinaus schnell dankbar angenommen worden ist. Und so ist das Festival in den letzten Jahren beständig gewachsen. Hinzugekommen sind dabei nicht nur neue Spielorte und Ideen wie der „Werkraum“, in dem Regieassistenten, Schauspieler und Studierende gemeinsam neue Stücke erarbeitet haben. Vor zwei Jahren haben sich unter dem Dach von Kaltstart schließlich vier bis dahin eigenständige Nachwuchsfestivals zusammengeschlossen: Hinzugestoßen sind das Finale-Festival, das Abschlussproduktionen der Hamburger Theaterakademie präsentiert, das Fringe-Festival für innovatives Off-Theater und künstlerische Interventionen an ungewöhnlichen Orten und das Jugendtheater-Festival Youngstar, aus dem nun die Sparte „Kaltstart jung“ geworden ist. Der Profi-Nachwuchs aus den Stadt- und Staatstheatern wird seitdem in der Sparte „Kaltstart pro“ präsentiert. Außerdem gibt es seit 2010 eine Autorenlounge für junge Gegenwartsdramatik, die Theaterautoren mit Dramatikern zusammenbringt, jene einmal ins Rampenlicht rückt, die sonst hinter der Bühne verborgen bleiben, und Gelegenheiten schafft, neue Texte auf ihre Theatertauglichkeit zu prüfen.
Damit ist Kaltstart zum größten Theaternachwuchsfestival des Landes geworden. Mehr als 100 Produktionen, Konzerte und Parties an 25 unterschiedlichen Orten haben haben im letzten Jahr rund 5.000 Zuschauer angelockt. Ein wenig geschrumpft ist das Festival in diesem Jahr. Zu sehen sind aber immer noch mehr als 50 Produktionen.
Den Großteil bestreiten die jungen Profis. Zu Gast ist beispielsweise das Kasseler Staatstheater mit Petra Schillers Inszenierung von Igor Bauersimas „norway.today“ über die lebensmüde Julie, die mit einem übers Internet gefundenen Gleichgesinnten nach Norwegen reist, um gemeinsam von einem Felsen in den Tod zu stürzen. Der gemeinsame Freitod stellt sie indes vor unerwartete Schwierigkeiten. Im Stück „wohnen. unter glas“ des Nationaltheaters Mannheim wiederum treffen drei junge Menschen, die einst nicht nur Raum und Betten, sondern auch Träume und Ideale geteilt hatten, nach Jahren der Trennung wieder aufeinander und ziehen auf einem gemeinsamen Wochenende Bilanz.
Immerhin 17 Produktionen präsentiert das Abschlussarbeiten-Festival Finale. Ausgehend von Gertrude Steins „Doctor Faustus Lights in the Lights“ tauchen im Stück „Im am here Doctor Faustus“, eine Diplominszenierung der Theaterakademie Hamburg, drei Performer_innen in den Klang der experimentellen Stein’schen Sprache ein. Wieder zu Gast ist dieses Jahr die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ aus Berlin. In „Werther“ erforscht das Ensemble um Regisseur Simon Kubisch und Dramaturg Roman Senkl mit Goethe den Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft, Individualismus und Narzissmus, Ideal und Wirklichkeit.
Nur zwei Stücke gibt es dieses Jahr in der Sparte „Kaltstart jung“ zu sehen: „Warum machen wir denn nichts?“, fragt da das Junge Theater jup! am Stadttheater Bremerhaven im Stück „Feiert! Facebookt! Folgt!“ und lädt zu einer Reise durch die Jugendbewegung voller unbeantworteter Fragen ein.
Ausschließlich unter freiem Himmel finden diesmal die Performances des Fringe-Festivals statt, der Schwerpunkt liegt dabei auf Formaten, die geeignet sind, Aufsehen zu erregen und im besten Fall einen visionären Charakter haben. Auf dem Vorplatz des Schlachthofs im Karolinenviertel bauen die Berlinerinnen Carolin Lindner und Nina Stemberger etwa ein interaktives Zelttheater auf, in dem sie sich fragen, was passiert, wenn des Welt des Campens auf den vornehmen Adel trifft. Im Schanzenpark spielt das FigurenKombinat am Donnerstag und Freitag der übernächsten Woche Straßentheater mit einer Aufziehpuppe und einem Teddybären, die versuchen ihre Künstlichkeit zu überwinden, indem sie „Menschsein spielen“.
■ Sa, 30. 6., 21 Uhr, Fabrik, Barnerstraße 36