Vielleicht ist das die Barbarei

HELDEN Zwischen Cormac McCarthy und J. M. Coetzee: Davide Longos Endzeitvision „Der aufrechte Mann“

„Eine Gesellschaft stirbt nicht aus Bosheit, sondern aus Trägheit“

DAVIDE LONGO

VON SABINE SEIFERT

Das Internet bricht als Erstes zusammen. Benzin ist knapp, Tankstellen werden, sofern sie noch geöffnet haben, von Wachtrupps gesichert. Privatsender spielen ausschließlich Musikkonserven. Ein kostbarer Kanister Olivenöl verschwindet aus dem Kofferraum. Eine wild gewordene Meute Männer jagt eine Meute wild streunender Hunde, bringt sie grausam um. Das ist der Anfang vom Ende in Davide Longos Roman „Der aufrechte Mann“, einer Art apokalyptischen Thrillers oder sentimentalen Zukunftsromans, den man unweigerlich auf Italien heute bezieht: der Zirkus Berlusconi und der politisch-kulturelle Niedergang des Landes.

Falsch, sagt Davide Longo, nur kurz in Berlin zu Besuch. „Es ist kein Buch über Italien, sondern über die westliche Zivilisation. In Italien ist der Niedergang einfach bloß sichtbarer.“ In Griechenland oder Spanien sei die Situation schließlich nicht viel anders, sagt der 41-Jährige, der in Turin lebt. „Eine neue Zeit begann […], deren Schlüsselbegriff ‚ohne‘ sein würde, wie der der vergangenen Epoche ‚mit‘ gewesen war.“

Dieser Satz stammt von Leonardo, der männlichen Hauptfigur des Romans. Ein Intellektueller und einst bekannter Schriftsteller, der über die Affäre mit einer Studentin gestolpert ist und zurückgezogen in seinem norditalienischen Heimatdorf lebt. Er ignoriert die Zeichen des Verfalls und der Verwahrlosung, die Gerüchte über geschlossene Grenzen, marodierende Banden. Rechnen Sie nicht damit, beim nächsten Mal noch Geld zu bekommen, sagt ihm der Bankbeamte. Dann kommt eines Tages seine Exfrau mit der gemeinsamen Tochter vorbei, lässt Lucia mit dem Sohn aus ihrer neuen Ehe bei Leonardo zurück. Irgendwann ist die Patchwork-Familie gezwungen aufzubrechen. Das Leben auf der Straße beginnt.

Cormac McCarthys Endzeit-Roman „Die Straße“ ist ein wichtiger Bezugspunkt für Davide Longo. Auch dort zieht ein Vater mit seinem Sohn durch ein verwüstetes Land Richtung Meer. Das ist der Teil: apokalyptisches Roadmovie. Doch ebenso erinnert „Der aufrechte Mann“ an Coetzees großartigen Roman „Schande“, in der ein Literaturprofessor durch eine Affäre mit einer Studentin aus Amt und Würden fällt, zu seiner Tochter (die nicht Lucia, aber Lucy heißt) aufs Land zieht und dort die Verschiebung und Umkehrung der Machtverhältnisse an Leib und Seele erlebt: ein Prozess der Demütigung, Selbstfindung und Selbsterniedrigung, im Laufe dessen der Literaturprofessor Hunden zu einem würdigen Sterben verhilft. Bei Longo ist es ein Hundewelpe, dem Leonardo das Leben rettet und der ihn fortan begleitet. Das ist der Teil: parabelhaftes Erzählen. Doch anders als bei Coetzee führt Longo die Parabel nicht konsequent bis zum Ende durch, nimmt ihr damit das Gefühl absoluter Beklemmung, sondern bricht sie mit einer fast biblisch anmutenden Metaphorik auf.

Longo, der in Turin an Alessandro Bariccos Scuola Holden Literatur unterrichtet, nimmt viele literarische, filmische und motivische Anleihen. Der Hund etwa heißt Bauschan – nach Thomas Manns Erzählung „Herr und Hund“. Das kann schon mal nerven, ist aber in seiner Unbekümmertheit auch wieder sympathisch. „Ich erzähle im Grunde das, was nach Coetzees ‚Schande‘ und vor McCarthys ‚Straße‘ geschieht“, sagt Longo. „Ich erzähle, wie die Welt so werden kann wie bei McCarthy.“ Roh ist diese Welt, grausam und doch schön. Die Natur ist bei Longo völlig intakt. Sie erobert sich ihren Raum zurück. Manchmal spendet sie auch Trost oder Schutz. Wie das Schreiben oder Erzählen.

„Das Ende des Menschen muss nicht unbedingt das Ende der Natur bedeuten“, erklärt Davide Longo. „Die Apokalypse kann auch mit einem Neuanfang einhergehen.“ Ob sich denn Italien nun positiv verändere? Er lacht. Nein, das glaube er nicht. Die politischen Kräfte seien die gleichen. Dieselbe Linke, dieselbe Rechte, dieselben Intellektuellen, die den Linken oder Rechten gefallen wollen. Ihre Rolle als Störenfriede, als Visionäre nicht ernst nähmen. Keine mutigen Kapitäne in Sicht.

Leonardo ist so ein Intellektueller. Passiv. Reaktiv. Ein Weichei, sagt ein Dorfbewohner. Scheinbar ungeeignet, den Gefahren der Natur zu trotzen, Verantwortung für die Kinder zu übernehmen. Der zweite Teil des Buches – der zugleich der schwächere ist – schickt Leonardo mit seinen Schutzbefohlenen auf die Reise, wo sie einer Gruppe mit Drogen zugeknallter, ausgeflippter, dumpfbackiger Jugendlicher in die Hände fallen, die sich von einem blonden Guru namens Richard befehligen lassen. Tochter Lucia wird dessen Geliebte, Leonardo in einen Käfig eingesperrt, aus dem er abendlich geholt wird, um auf glühenden Kohlen zu tanzen.

Ein Intellektueller ignoriert die Zeichen der Verwahrlosung. Dann beginnt das Leben auf der Straße

Das ist die Bewährungsprobe des Intellektuellen, der in einem grausamen Akt der Selbstverstümmelung dem Guru und seiner Schreckensherrschaft widersteht und sich damit befreit. Dieses Heldenepos hat durchaus etwas sehr Männliches. Longo widerspricht. Genau diese weiblichen Anteile Leonardos, die ihn anfangs zum Schwächling machten, seien doch das, was ihn überlebensfähig macht. Sein Unvermögen zu Gewalt, seine Geduld. Die Fähigkeit zur Veränderung.

„Grund für den Niedergang einer Gesellschaft ist nicht die Bosheit“, sagt Davide Longo. „Das ist nur eine Konsequenz dessen. In Wirklichkeit stirbt eine Gesellschaft aus Trägheit.“ Trägheit der Seele, die zur Verwahrlosung, zur Verrohung der Gesellschaft führt. Das ist das Hauptthema des „Aufrechten Manns“. „Vielleicht war das die Barbarei, überlegte er: ein neues Vokabular und neue Bilder, die sich ganz allmählich durchsetzten. Das erste Wort ist das Trojanische Pferd. Dann ist der Brunnen vergiftet. Der Keim würde sich fortsetzen. Die Krankheit. Die Cholera.“

Leonardo hält der Vergiftung der Seele und der Worte stand. Dank der Reinheit beziehungsweise seines „schlichten Herzens“ (wieder so ein literarischer Titel). Diese Schlichtheit findet ihre Entsprechung in einer ebenso schönen wie kräftigen Sprache, die den Zukunftsroman in gewisser Weise erdet. Leonardo wird nie wieder schreiben, er wird ab jetzt erzählen.

Davide Longo: „Der aufrechte Mann“. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt, Reinbek 2012, 480 Seiten, 24,95 Euro