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Archiv-Artikel

Mit der Renaissance im Koffer

KUNSTGESCHICHTE Aby Warburg war zeitlebens eine Legende. Der klassische Renaissanceforscher reiste zu den Hopi-Indianern und befreite sich mit Vorträgen über Schlangenrituale von seiner Psychose. Umfangreiche Werke widmen sich nun einem der herausragenden Wegbereiter antiautoritären Denkens

Warburg bewegte sich am Ursprungsort des Werteregimes, das die Moderne niederzureißen begann

VON ROBERTO OHRT

Für die Entstehung einer Legende ist es von Vorteil, wenn der Fantasie genügend Raum gelassen wird. Das war bei Aby Warburg auf jeden Fall gegeben, denn worauf sollte sich der Ruf stützen, der dem Hamburger Kunst- und Kulturgeschichtler vorauseilte? Das Gesamtwerk der zu Lebzeiten (1866–1929) veröffentlichten Schriften füllt gerade mal zwei Bände; sie kamen 1932 heraus, waren aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur schwer zu finden. Die Fachgemeinde musste hierzulande bis 1981 warten, als zumindest eine Auswahl seiner Texte im Reprint erschien. Der Wissensstand von 1932 war aber erst zu seinem 70. Todestag wiederhergestellt.

Auch der schwere Bildband, der nun die Reihe der Gesammelten Schriften von Aby Warburg fortsetzt, bestätigt den betrüblichen Zustand im Bereich der Zugänglichkeit, denn immerhin stellen die Herausgeber die „Bilderreihen und Ausstellungen“ als „das Hauptwerk des späten Warburg“ (S. VII) vor. Darin ist ihnen ohne Einschränkung zuzustimmen, nur muss hinzugefügt werden, dass fast ein ganzes Jahrhundert verging, bis dieses Experiment mit der Bildgeschichte, das auf internationaler Ebene mittlerweile als bahnbrechend und wegweisend angesehen wird, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurde.

Jahrzehntelang mussten Interessierte sich nach London ins Warburg Institute begeben, wollten sie eine Ahnung vom Hauptwerk erlangen. Vor gut zwanzig Jahren rückte zumindest der Bilderatlas – also das Kerngebiet des Hauptwerks – in den Bereich der Sichtbarkeit. Die Wiener Forschungsgruppe daedalus hatte dazu eine Ausstellung aufgebaut und sogar eine erste gedruckte Version besorgt. Ab 2000 war das Tafelwerk dann auch in der offiziellen Studienausgabe erhältlich. Der Band geht in diesem Jahr in die vierte Auflage; er kann insofern auf der Ebene kostspieliger Folianten (160 Seiten für knapp 100 Euro) als ein kleiner Bestseller gelten und belegt, dass es am Interesse der Leser nie gemangelt haben dürfte.

Der wesentlich umfangreichere Band zu den „Bilderreihen“ (480 Seiten) kostet jetzt beachtliche 248 Euro. Das ist dann wohl ein stolzer Preis und ein merkwürdiger dazu, denn die Forschung an dieser Publikation wurde von zwei Institutionen über Jahre gefördert. Es müssen also schon sehr viele Gelder in die Sache geflossen sein, eine Unterstützung, die an das Publikum nicht weitergegeben wird.

Andererseits zahlt die Investition sich aus, denn sie erspart immerhin einen Flug nach London (inklusive mehrtägiger Aufenthalt in dieser kostspieligen Stadt) und bringt dafür einen nicht unwesentlichen Teil des Archivs ins eigene Regal.

Aby Warburg, geboren 1866 in Hamburg und 1929 dort gestorben, gehört auf den ersten Blick eher dem 19. Jahrhundert an. Tatsächlich sah er den Schwerpunkt seiner Forschung in der florentinischen Renaissance. Wie diese „Wiedergeburt“ oder das „Nachleben der Antike“ stattgefunden hat, wollte er en detail rekonstruieren. Er bewegte sich also amUrsprungsort des Werteregimes, das die Moderne in dieser Zeit systematisch niederzureißen begann. Insofern mag er wie ein typischer Vertreter seiner Zunft erscheinen, ein Kunsthistoriker, der vor dem aktuellen Geschehen auf seinem Gebiet in die Archive ausweicht. Zu diesem Bild passt womöglich auch seine Herkunft aus einer Bankerfamilie.

Wiedergänger auf Zeit

Damit aber wären die Klischees definitiv ausgereizt, denn Warburg behauptete nicht nur entschieden seine Differenz zum Florenz-Tourismus (die „Übermenschen in den Osterferien“ ekelten ihn genauso an wie die „grenzpolizeiliche Befangenheit“ im universitären Betrieb): er ging die anderen Wege nicht nur in Gedanken. Berühmt wurde seine Reise zu den Hopi in Arizona, Grundlage des legendären Vortrags über das Schlangenritual. Ebenso bekannt dürfte die Tatsache sein, dass er diesen Vortrag als Patient in der Psychiatrie gehalten hat, um sich selbst aus der Schlangengrube seiner Psychose zu erheben, was ihm tatsächlich gelang.

Er sah sich danach zwar nur mehr als „Revenant“, ein Wiedergänger auf Zeit, doch in den letzten Jahren seines Lebens (von 1924 bis 1929) arbeitete er geradezu fieberhaft an der Herstellung seines Hauptwerks, dem „Mnemosyne-Atlas“, benannt nach der griechischen Göttin der „Erinnerung“, der Mutter der Musen. Dass die nun vorgelegte Publikation seine früheren Aktivitäten vollkommen ausblendet, ist bei dem Anspruch, den der Titel formuliert, irreführend und unverständlich. Warburg hat erwiesenermaßen vor 1914 in Hamburg einige Ausstellungen organisiert.

Die Bilderreihen, die in aller Ausführlichkeit aufgeblättert werden, sind in gewisser Weise Vorübungen oder Skizzen zu dem Atlas, und sie funktionieren selbst wie ein Erinnerungssystem. Sie sind als ein Spannungsfeld aufbaut, bildhaft markant und rhetorisch so durchkonstruiert, dass es alle Elemente eines komplexen Wissens aufnehmen und konzentriert aufbewahren kann, bereit, nach Nennung der richtigen Stichworte die ganze Komplexität des eingespeicherten Inhalts wieder freizugeben.

Warburg benutzte seine Tafeln genau in diesem Sinne, als Grundlage für Vorträge. Er zog die flächige und simultane Präsentation dem linearen Nacheinander einer Diaprojektion vor und entwickelte seine Gedanken im Wechselspiel mit dem Panorama seiner Bilder. Das geschah zumeist im ovalen Vortragssaal des Hamburger Warburghauses, aber er ging mit ihnen auch auf Reisen, nach Rom oder nach Berlin, wo er Albert Einstein eine private Einführung in die Geschichte der Sternbilder gab.

Geboren 1866 in Hamburg und 1929 gestorben, gehört er auf den ersten Blick eher dem 19. Jahrhundert an

Mit seiner „Renaissance im Koffer“ brachte er ein umfassendes historisches Geschehen in Bewegung; es war vielleicht sogar eine Wiederaufführung durch seine die Bilder beschwörende Rede, und wenn er das Nachleben der Antike bis in die Nuancen, Variationen und Widerstände aufzuspüren versuchte, so wollte er das große Projekt des Humanismus auch wiedererwecken und selbst durchleben, ihm letztlich in der Gegenwart Wirkung verschaffen.

Mehrere Stunden dauerten seine Vorträge mitunter, überwiegend frei improvisiert. Die meisten „Bilderreihen“ ließ er abfotografien, gelegentlich in verschiedenen Stadien, und auf diesem Material beruht der Band. Vortragsmanuskripte aber hat er offenbar nur selten angefertigt. Das Wenige, was erhalten ist, steht umso stärker da, wie etwa der Text zu „Manets Frühstück im Freien“ (Thema einer eigenen Bildreihe), eine bewundernswert dicht gefasste Hommage an den Maler und an das Bild, in dem die Wiederbelebung der Antike sich als unbekümmerte Zwanglosigkeit zwischen den Geschlechtern niedergelassen hat.

Umso bedauerlicher, dass die Herausgeber nur zwei, ohnehin schon zugängliche „Vorträge“ wiederveröffentlichen, wobei verwundert, dass sie ihre Version nicht direkt mit den anderen abgleichen (zwei ältere Publikationen – zur Planetariums-Ausstellung von 1930 und zum Boll-Vortrag – sind in dem Band ebenfalls nahezu vollständig wiederzufinden). Aus bisher unveröffentlichten Fragmenten wird hingegen nur zitiert. Im Rahmen einer Edition, die dankenswerterweise Entwurfsskizzen aufnimmt, wäre es durchaus angemessen, die begleitenden Notizen transskribiert und ansonsten in ihrem rohen Zustand vorzustellen.

Den „Warburg der Notizen“ wieder nur im Rahmen der eigenen Kommentare zu Wort kommen zu lassen, setzt eine schlechte Tradition fort. Edgar Wind (er war seit 1927 am Warburghaus) fiel die Attitüde 1970 schon beim ehrenwerten Ernst Gombrich auf, seinerzeit Leiter des Warburg Institutes. Wind: „Allerdings ist es in Warburgs Nachfolge mittlerweile wohl Tradition, seine literarischen Formeln wie eine Art Geheimrezeptur anzusehen, ein äußerst feines, doch allzu hoch konzentriertes Elixier des Wissens, das der […] Kundschaft nicht ohne reichliche Beimischung von Gerstenwasser aufgetischt werden dürfe.“

Dieses abgeschirmte Vorkosten der Konzentrate hat leider dazu geführt, dass nicht nur das Hauptwerk des späten Warburg erst jetzt zugänglich ist; es hält auch das Lebenswerk des Hamburger Forschers, seine Notizen, immer noch unter Verschluss.

  Roberto Ohrt, Kunsthistoriker in Hamburg. Der 8. Salon, Trommelstr. 7, Hamburg St. Pauli, zeigt derzeit eine Rekonstruktion von Warburgs Bilderatlas in den Originalgrößen (Mi.–Fr.: 12–19 Uhr, Sa.: 12–17 Uhr)

■  Aby Warburg, Gesammelte Schriften – Studienausgabe, Band II.2 „Bilderreihen und Ausstellungen“, Hg.: Uwe Fleckner u. Isabella Woldt. Oldenbourg Akademieverlag, 2012. 483 Seiten, 248 Euro