: Die Königin von England
„Aus dem Chaos freien Austauschs kommen die kulturellen Innovationen“, sagt Jimmy Wales. Mit diesem Glaubensbekenntnis beherrscht er sein Reich Wikipedia. Mit Erfolg: Beim Grimme Online Award hat das Internet-Lexikon gleich in zwei Kategorien gesiegt
VON BARBARA MÜRDTER
Äußerlich hat Jimmy Wales wenig gemein mit Dschingis Khan. Wales sieht aus wie Schwiegermutters Liebling und strahlt permanent wie ein Honigkuchenpferd. Doch wie einst die wilden Horden des Mongolenführers in beeindruckend kurzer Zeit halb Asien einnahmen und bis vor die Tore Wiens drangen, vermehrt sich auch Jimmy Wales’ Völkchen in rasantem Tempo, allerdings alles freiwillige Opfer. 50.000 Menschen verschiedenster Provenienz erklären sich derzeit ganz freiwillig loyal zur freien Online-Enzyklopädie Wikipedia und täglich werden es mehr.
Wikipedia ist vor allem Ventil für Menschen mit Mitteilungsbedürfnis: von Fledermausfans über Soziologen bis zu Wollfetischisten wollen sie andere über ihr Fachgebiet informieren. Manche reizt es, mit Gleichgesinnten zusammenzuarbeiten oder Angefangenes einfach liegen lassen zu können und darauf zu warten, dass andere den Artikel weiterführen. „Wenn man mehr bei Wikipedia macht, erkennt man mit der Zeit bestimmte Leute wieder“, berichtet der US-Amerikaner Wales, „dann freundet man sich an oder macht das Gegenteil. In diesem Moment fängt es an, etwas Soziales zu werden.“
„Ich kenne kein Projekt im Internet, das so enorm reichhaltig ist, eine so hohe Qualität und Dichte an Wissen hat“, lobt Moritz Both, Computerfachmann aus Hannover und Wikipedianer. Menschen mit völlig unterschiedlichen Lebensauffassungen sollen sich zusammenraufen und gemeinsam ihr Wissen bündeln. Die Qualität soll durch ständige Kontrolle anderer Nutzer gesichert werden.
Ganz unbescheiden hat Wales die Bibliothek von Alexandria vor 2.000 Jahren als Vorbild – nur mit den technischen Möglichkeiten unserer Zeit. Der Erfolg seines Babys, das innerhalb kürzester Zeit zum Boomprojekt avancierte und Wales zum Star der Internet-Community machte, hat ihn nicht wirklich überrascht: „Ich habe immer daran geglaubt, dass sie ganz groß wird.“ Wie ein Wanderprediger reist er inzwischen durch die Welt, um sein Projekt anzupreisen und sein „Volk“ bei einem der vielen Wikipedia-Stammtische zu besuchen, die sich inzwischen gebildet haben.
Sechs Jahre war die Software „Wiki“, vom Programmierer Ward Cunningham entwickelt, relativ unbeachtet durchs Internet gedümpelt. Bis Wales sie 2001 für seine Zwecke entdeckte. In so einem Wiki kann man von jedem Ort der Welt mit Internetzugang die Seiten bearbeiten – das passte genau zu Wales’ Traum. Eine Online-Enzyklopädie, wie sie ihm vorschwebte, war nur mit Heerscharen freiwilliger Helfer machbar. Das hatte Wales aus einem gescheiterten Versuch mit einem hierarchisch organisierten, zugangsbeschränkten akademischen Enzyklopädieprojekt namens „Nupedia“ gelernt.
Der heute 38-jährige Wales war als Optionshändler zu Geld gekommen. In den 1990ern faszinierte ihn die anarchische Zeit des Internets, diese neue technische und soziale Spielwiese, erklärt er im Interview. Mit der „Open Source“-Bewegung entwickelte sich in diesen Jahren auch die des „Open Content“. Wie der Quellcode der Computerprogramme für alle offen sein sollte und nach Belieben veränderbar, sollten auch Texte, Bilder und Töne zur Weiterbearbeitung frei sein und nicht durch Copyrights geschützt, die eine kreative Nutzung durch andere verhindern.
Nach dem Niedergang der Dot-Com-Ära griff Wales auf diese Ideen zurück. „Ich wollte eine frei lizenzierte Enzyklopädie, für jeden Menschen zugänglich, in seiner Muttersprache“, erzählt er. Ein Copyright sei nur für bestimmte Künstler und Autoren nützlich, welche die Gesellschaft aber nicht wirklich voranbrächten, meint Wales: „Jazz ist entstanden, weil die Musiker einander kopiert haben, Ideen untereinander ausgetauscht haben, das hat die Kultur fruchtbar gemacht. Aus diesem riesigen Chaos freien Austauschs kommen die kulturellen Innovationen, nicht von Disney oder Britney Spears.“
Die Wikipedia soll ein Spielfeld für solch ein kreatives Chaos bilden. Allerdings wird Wales hin und wieder auch als „Gottkönig“ oder der „wohlwollende Diktator“ bezeichnet. Auch wenn jeder, der schreibt, erst einmal autonom handelt. Doch sobald der Content steht, gibt es eine Aristokratie, so Wales. Verdiente Nutzer, die als Administratoren Aufpasserjobs machen und Mutti spielen, schalten sich ein. Sie passen auf, dass niemand lizenzierte Inhalte auf die Seiten bringt und das Urheberrecht verletzt. Sie versuchen, durch Kritik verstörte Schreiber wieder zu ermutigen sowie Streithähne auseinander zu bringen. Zur Not, wenn keine Lösung in Sicht ist, werden Seiten gesperrt. So werden Edit-Wars, endlose Kämpfe zwischen zwei Parteien um die gültige Version eines Artikels, vermieden.
Seine eigene Funktion vergleicht Wales mit der Königin von England: Er mischt sich nicht ein, nur wenn es keine Lösung gibt, spricht er ein Machtwort: „Der Gemeinschaft hilft es, wenn ich mal der böse Bube bin und entscheide, was zu tun ist, und die sagen können: ,He, Jimbo, find mal ’ne Lösung.‘ “
Wales kokettiert damit, dass er natürlich nicht schlauer sei als die anderen. „Nur wenn man eine Organisation von Freiwilligen hat, die auf Konsens basiert, ist es manchmal so, dass zwei Meinungen jeweils mit guten Argumenten kommen, und dann muss einfach eine Entscheidung getroffen werden. Das ist besser als ewig zu diskutieren.“
Anarchie, Demokratie, konstitutionelle Monarchie – von allem etwas ist hinter den Kulissen der Enzyklopädie zu finden. Wales meint: „Die wirkliche innovative Erfindung bei der Wikipedia sind die Regeln, die eine große Gemeinschaft zusammenhalten, eine Politik, die Leute dazu bringt, gute Artikel zu schreiben.“ Woran noch gefeilt wird. „Man kann bei so einem offenen Freiwilligenprojekt nie verhindern, dass Leute stören, aber denen kann man es so unangenehm wie möglich machen.“
Jede der über 100 Sprachsektionen der Wikipedia – von „simple English“ über Lëtzebuergesch bis Sanskrit – stellt autonome Regeln auf. Universal gelten nur zwei Grundregeln, welche die „Königin“ bestimmt hat: Das Prinzip der Neutralität und „Good Faith“, was so viel bedeutet wie: Im Zweifelsfall davon ausgehen, dass der Nutzer seine Inhalte mit bestem Glauben und Gewissen verbreitet. Das Prinzip der Neutralität fällt vielen am Anfang schwer. Moritz Both erklärt: „Das Problem ist, wenn mich ein Thema interessiert, bin ich auch leidenschaftlich.“ Bestimmte Themen, aus der Politik zum Beispiel, sind deswegen heiß umkämpft. Good Faith ist da leichter. Mutwillige Zerstörer, Vandalen, werden im Allgemeinfall schnell erkannt – und innerhalb weniger Minuten steht die alte Textversion wieder.
Mit dem Wachstum der Wikipedia nimmt aber auch die Zahl der Störenfriede zu. Da bekommt schon mal ein Administrator eine Morddrohung von obskuren Organisationen, die ihre Intentionen im Wikipedia-Artikel verfälscht sehen. Im Glücksfall sind es nur beleidigende E-Mails, weil der Administrator einen Eiferer gebremst hat.
Zu große Toleranz gegenüber Spinnern sieht auch Larry Sanger als ein Problem der Wikipedia. Bis Ende 2001 war er Wales’ wichtigster Mitarbeiter. Der Philosophiedozent aus Ohio setzte aber von Anfang an auf Qualität statt auf Quantität. Im Gegensatz zu Wales, der erst mal wollte, dass das Projekt in die Breite geht, dass so viele Leute so viel wie möglich schreiben. Lieber zehn Hobbyastrologen, die zwanzig Artikel im Monat schreiben als einen Astrologieprofessor, der nur einen im Jahr verfasst. Sanger kritisierte vor kurzem noch einmal diesen Antielitismus, der zu Mittelmäßigkeit führe.
Wales kontert: Innerhalb der Wikipedia-Gemeinde gäbe es sehr wohl ein starkes Bedürfnis nach Qualität. Aber es sei nicht Sinn der Sache, einfach mit dem Uniabschluss zu wedeln. Zitieren von Quellen und durchdachtes Argumentieren sollen als Expertise dienen. Sanger prophezeite eine akademische Abspaltung der Wikipedia.
In Deutschland hat sich diese „Fork“ (Gabelung) vor kurzem vollzogen. Sieben ehemalige Wikipedianer sind ins Exil gegangen, weil sie von fruchtlosen Endlosdiskussionen mit Nervensägen ermattet waren und auch nicht mehr ständig ehemals gute Artikel wieder verschlechtert sehen wollen. Sie haben ihre neue, noch recht unspektakulär wirkende Software „Wikiweise“ ins Netz gestellt. Hier gilt: Schreiben nur nach Anmeldung, Störenfriede fliegen raus.
Als Maßstab für die Qualität der Wikipedia wird immer wieder der altehrwürdige Brockhaus angeführt. Dessen 30-bändige 21. Auflage kommt im Herbst auf den Markt, erstmals auch in der elektronischen Version als USB-Stick. Auf wirtschaftlicher Ebene sieht Wales sein Projekt nicht in Konkurrenz zu Brockhaus: „Der Umsatz von Brockhaus ist um 30 Prozent gestiegen. Also scheint Wikipedia ihrem Geschäft im Moment nichts zu schaden.“ Wikipedia sei anders als Brockhaus keine Firma, sondern eine Gemeinschaft. Aber das Ego spielt auch eine Rolle. Schon jetzt könnten einige Artikel mit der Brockhaus-Qualität mithalten. In 10 Jahren sollen es alle sein, wenn es nach Wales’ Vorstellungen läuft. Dafür soll ein Prozess entwickelt werden, in dem „stabile“ Versionen markiert werden, die als gut genug identifiziert worden sind. „Dann können wir diese Versionen raussuchen und sagen: Dieser Text ist mindestens so gut wie oder besser als Brockhaus. Und er ist dreimal so lang. Wenn das klappt, sind wir stolz darauf.“
BARBARA MÜRDTER, Jahrgang 1968, ist freie Journalistin und Wikipedianerin. Die erste Internationale Wikimedia-Konferenz findet am 4.–8. August 2005 in Frankfurt am Main statt ( http://wikimania.wikimedia.org/wiki/Main_Speakers ), mit Koryphäen aus der Open-Source-Szene wie Richard Stallman oder Wiki-Erfinder Ward Cunningham