: Knips dir deinen Anschlag
Fotohandys waren lange Zeit nur ein hübsches Spielzeug. Seit den Terroranschlägen in London prägen sie das kollektive Bildgedächtnis. Obwohl sie unscharf, unterbelichtet oder verwackelt sind
VON CHRISTOPH SCHULTHEIS
Bislang war es oft bloß Porno. Wenn eine neue Technik marktreif wurde, waren es Bilder von Geschlechtsteilen und Menschen beim Geschlechtsverkehr, die sie massentauglich machte. Beim Videorekorder jedenfalls war das so. Und beim Internet auch. Und wenn das so war, wenn wieder mal eine unwiderstehliche Anwendung die Verbreitung neuer Technologien rasant zu beschleunigen verstand, fällt zur Beschreibung dafür das unschöne Wort Killer-Application.
Beim Fotohandy ist das anders. Wozu es eigentlich gut sein soll, in Mobiltelefone Minikameras einzubauen, wusste anfangs eigentlich niemand. Selbst Hersteller und Werbung taten sich schwer damit, den Sinn und Zweck zu veranschaulichen, und zeigten Mädchen, die sich selber beim Anziehen fotografierten, oder Muttis, die die tolle Bewegtbildfunktion im neuen Businesshandy dazu nutzten, Grimassen zu schneiden und sich in Hotellobbys lächerlich zu machen. Und wer – nach der letzten Vertragsverlängerung – plötzlich so ein Telefon besitzt, weiß vielleicht immer noch nicht, wozu.
Gemeinhin werden dann einfach mal so die eigenen Freunde fotografiert oder ein One-Night-Stand im Bett oder Badezimmer, die hübsche Verkäuferin vielleicht, das geile Popkonzert, das hübsche, grüne Kleid, der Graffiti-Spruch am Haus gegenüber oder bloß Busen am Baggersee. Unseriöse Medien verbreiteten mit nachgestellten Szenen immer mal wieder die Mär vom „Handy-Spanner“, der unterm Tisch oder auf der Rolltreppe wildfremden Frauen untern Rock zwischen die Beine knipst. Oder in Umkleidekabinen. Aber das kommt im wirklichen Leben seltener vor als in Ulrich Meyers „Akte“ oder in Bild.
Immerhin gibt es im Internet allgemein zugängliche Handyfotosammelstellen wie phonebin.com oder private Moblogs, bei denen man innerhalb kürzester Zeit seine Handyfotos ins Internet stellen kann. Sie sind technisch ausgereift, inhaltlich aber nicht. Die bislang originellste Idee ist es, bei einer besonders schnellen Autofahrt den Tachometer zu knipsen. Hm …
Im ZDF-„Fernsehgarten“ hingegen werden die Fernsehzuschauer momentan dazu aufgefordert, mit dem Handy ihr „Sonntagsgesicht“ abzufotografieren und per MMS ans ZDF zu schicken. Die Zuschauer machen davon regen Gebrauch. Aber das „Sonntagsgesicht“ als Killer-Application?!
Womöglich aber hat das fiese Wort seit Donnerstag eine ganz neue Bedeutung. Von den Terror-Anschlägen in der Londoner U-Bahn gibt es nicht nur oberirdische, halbprofessionelle TV-Bilder von abgesperrten Straßen und Krankenwagen, sondern auch ein paar Bilder direkt aus den betroffenen U-Bahnen. Das ist an sich nicht neu: Amateurvideos gab es auch schon, als zwei Flugzeuge ins World Trade Center flogen und die Hochhaustürme hernach in sich zusammensackten, und als Urlauber beim Tsunami ihren Camcorder aus dem Hotelfenster hielten. Neu aber ist, dass Mitarbeiter der Nachrichtenagentur APTN etwa in London offenbar Augenzeugen gezielt nach Fotohandybildern gefragt und insbesondere eine kurze Handyvideo-Sequenz ergattert hatten, die anschließend vom britischen Sender Sky News, später dann auch in Deutschland von N 24 ausgestrahlt wurde – und zwar immer und immer wieder.
„Das Video war grobkörnig und unscharf, aber zweifellos eindrucksvoll,“ schwärmt daraufhin beispielsweise die Nachrichtenagentur AP. Aber das stimmt nicht: Die grobkörnige, unscharfe, unterbelichtete und verwackelte Handyvideo-Sequenz sieht aus, als hätte jemand einen voll besetzten U-Bahn-Wagen gefilmt, an dem eine Scheibe kaputt ist. Eindrucksvoll ist daran nur die Vorstellung, dass jemand in so einer Situation auf so eine Idee kommt – zumal in der Londoner U-Bahn doch die Mobiltelefonie frühestens ab 2008 möglich sein soll, die Tatsache also, dass nach Bekanntwerden der Anschläge in der britischen Hauptstadt die Handynetze zusammenbrachen, für die Betroffenen vor Ort keine Rolle gespielt haben dürfte. Rätselhaft, wie man in so einem Moment daran denken mag, dennoch das Handy rauszukramen und loszufilmen oder -fotografieren! Man wäre gern dabei gewesen, um das zu verstehen. Nein?
CNN-Chef Jonathan Klein jedenfalls glaubt darin eine „Demokratisierung der Medien“ zu erkennen und „ein weiteres Beispiel für den Bürger-Journalisten“. Und wenn das so ist, hier noch ein paar Tipps für den angehenden „Bürger-Journalisten“:
– Beim nächsten Mal vorher schnell einen Weißabgleich machen!
– Professionelle Sensationsjournalisten sind Abzocker. Mindestens das Doppelte verlangen!
– Und immer schön den Akku aufladen!