: An den Zeitgeist heranschleichen
TAGUNG In Frankfurt diskutierten Forscher die Politisierung der Wissenschaft im Nationalsozialismus. Gerade dort gibt es Anlass, über die politische Verantwortung der Wissenschaft nachzudenken
VON RUDOLF WALTHER
Das Historische Seminar der Universität Frankfurt und das Fritz-Bauer-Institut veranstalteten letzte Woche eine dreitägige Konferenz zur Thema „Politisierung der Wissenschaft. Jüdische, völkische und andere Wissenschaftler an der Universität Frankfurt“.
Das Thema steht im Zusammenhang mit dem 100-jährigen Jubiläum der Universität, und der thematische Bezug auf jüdische und völkische Wissenschaftler ergibt sich aus der Tatsache, dass die 1914 gegründete Stiftungsuniversität ihre Existenz ganz maßgeblich jüdischen Mäzenen – insbesondere dem Unternehmer Wilhelm Merton – verdankt. Und der Lehrkörper der Universität bestand bis 1993 aus rund einem Drittel Wissenschaftler jüdischer Herkunft.
Viele mussten danach ins Exil oder wurden in Konzentrationslagern ermordet wie der Mediziner Carl Herxheimer (1861–1942). Es gibt also reichlich Gründe, in Frankfurt über die politische Verantwortung der Wissenschaft nachzudenken. Steven E. Aschheim (Jerusalem) bot einen kundigen Überblick über das „intellektuelle Kaleidoskop“ der Weimarer Republik, deren Wissenschaftler sich dem völkischen, nationalen, konservativen, liberalen, radikalen und revolutionären Lager zuordnen lassen, wobei es zwischen diesen Überlappungen und lagerinterne Auseinandersetzungen gab, etwa zwischen dem national orientierten Martin Buber, dem Linken Siegfried Kracauer und dem radikal-konservativen Historiker Ernst Kantorowicz. Über dessen angebliche Nähe zum Naziregime informierte der Mittelalterhistoriker Robert E. Lerner. Kantorowicz, der Dandy aus dem George-Kreis, entkam den Nazis in die USA. Er legte sich schon 1933 mit dem „geheimen Deutschland“ eine Gegenutopie der Dichter, Weisen, Helden und Heiligen zum Nationalsozialismus zurecht, die immer eine realitätsferne Mythologie blieb.
Rundum überraschende Erkenntnisse präsentierte Moshe Zimmermann (Jerusalem). Er berichtete nämlich von einem „Export“ des völkischen Denkens nach Palästina beziehungsweise Israel. Dieser Export nahm zwei Formen an – eine gemäßigt „soft-völkische“ und eine militant-nationalistische „hard-völkische“. Zur ersten Form zählten die Historiker Josef Klausner und Jakob Katz, der gemäßigt „völkisches Denken“ aus Deutschland in die israelischen Schulbücher importierte. Einer der Väter der nationalistisch imprägnierten Sakralisierung des Judentums war Simon Netanjahu, dessen Sohn heute Israel regiert. Netanjahu seniors „aggressiver Nationalismus“ war so kompromisslos gegenüber politischen Ansprüchen der Palästinenser auf Gleichberechtigung wie jener des Sohnes.
David Dysenhaus (Toronto) und Peter C. Caldwell (Houston) beschäftigten sich mit den Juristen Hermann Heller (1891–1933), dem wichtigsten Theoretiker des modernen sozialen Rechtsstaats, und seinem rechtsradikalen Antipoden Ernst Forsthoff (1902–1974), der im Schlepptau von Carl Schmitt zuerst Rechtsstaat und Demokratie demontierte und sich nach 1945 als Verwaltungsrechtsexperte einen Namen machte. Das Thema der Tagung verlangt methodisch nach personalisierten, biografischen Zugriffen, weil es immer Individuen waren, die so oder so handelten oder nicht handelten. Wie unzureichend dieser Zugriff ist, demonstrierte der Wissenschaftshistoriker Moritz Epple. Der Mathematiker Ludwig Bieberbach (1886–1982) „erfand“ zwar nach 1933 die „deutsche Mathematik“, scheiterte aber bei dem Versuch, in der „Deutschen Mathematiker-Vereinigung“ das Führerprinzip durchzusetzen. Er trat zurück. Die Vereinigung wählte jedoch als Nachfolger seinen Schüler und rabiaten Nazi Wilhelm Süß (1895–1958). Der brachte die Vereinigung auf den Kurs des Regimes und „säuberte“ sie von jüdischen Mitgliedern. In diesem Fall war es keine Einzelperson, die vor der Diktatur kapitulierte, sondern eine ganze Standesorganisation in kollektiver Verblendung.
Der französische Philosoph Emanuel Faye, der hierzulande mit kritischen Arbeiten über Heidegger bekannt wurde, zerstörte nachdrücklich die Legende vom Antinazismus des konservativen Politologen Eric Voegelin (1901–1985). Faye zeigte, wie sich Voegelin 1933/35 mit opportunistischen Büchern über „Rassen“ förmlich an den Zeitgeist heranschlich und bei prominenten Nazis wie Alfred Baeumler, H. K. Günther und Ernst Krieck nach freien Stellen erkundigte und sich dabei von seinem Lehrer Hans Kelsen aus reinem Opportunismus distanzierte, was die rührige Voegelin-Gemeinde bis heute leugnet.
Genau das geschah lange Zeit auch im Fall des Rassenhygienikers Otmar Frh. von Verschuer (1896–1969). Sheila F. Weiss (New York) unternahm den anachronistischen Versuch, Verschuer als irrenden und unwissenschaftlich arbeitenden „Humangenetiker“ darzustellen,was in den Spruchkammerverfahren noch zum Persilschein reichte, stieß bei den anwesenden Forschern jedoch auf energischen Widerspruch. Leider entsprach der Besuch der informativen Veranstaltungen nicht der Brisanz der Themen und dem Niveau der fast 20 Beiträge der Experten aus den USA, Israel, Frankreich und Deutschland.