„Wissen wir, dass pazifistische Musik nichts nützt?“

KRIEGSGEDENKEN Zu seinem Amtsantritt als Chefdirigent lässt Jeffrey Tate die Hamburger Symphoniker Benjamin Brittens „War Requiem“ aus dem Jahr 1962 aufführen. Eine Stückwahl, für die der Engländer sehr persönliche Gründe hat, wie sich im Interview zeigt

dirigierte an allen wichtigen Opernhäusern und seit der Saison 2009/2010 als Chefdirigent der Hamburger Symphoniker. Foto: dpa

taz: Herr Tate, warum spielen Sie zum Auftakt ausgerechnet das „War Requiem“?

Jeffrey Tate: Wegen meiner Affinität zur menschlichen Stimme wollte ich einerseits ein vokales Werk aufführen. Andererseits wollte ich – als Engländer, der in Deutschland lebt – dem 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs Rechnung tragen. Hinzu kommt, dass ich die Uraufführung des Requiems 1962 in der von Deutschen zerstörten, wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry gehört habe. Britten hatte sie ja als Akt der Versöhnung konzipiert – er wollte russische, englische und deutsche Solisten zusammenbringen. Ich war damals sehr radikalisiert und stark beeindruckt von diesem pazifistischen Stück. Hinzu kommt, dass es das Publikum sehr direkt anspricht – und dabei keineswegs „gefällig“ ist, wie Adorno damals fand.

Verharrt das Requiem mit seinen drastischen Texten und Harmonien nicht in einem Gestus des Entsetzens?

Nein, ich finde es eher ein bisschen ironisch. Die kriegskritischen Gedichte Wilfred Owens, die Britten mit liturgischen Texten mischt, unterminieren systematisch den Katholizismus. Letztlich kritisiert Britten durch die Hinzunahme der Owen-Texte Form und Zweck der Gattung Requiem. Und er geht noch weiter: Im Schlusschor, der auf die Begegnung ehemals verfeindeter Soldaten im Jenseits folgt, verwendet Britten eine Musik, die fast japanisch oder balinesisch wirkt. Da weht ein Hauch nichtchristlicher, vielleicht buddhistischer Spiritualität durch das Stück.

Ist es für Sie ein religiöses oder ein politisches Stück?

In seiner Grundanlage natürlich ein politisches. Schließlich war Britten sein Leben lang erklärter Pazifist und führte das Stück zu einer Zeit auf, zu der an englisch-deutsche Versöhnung nicht zu denken war.

Was wollen Sie mit Ihrer Aufführung erreichen? Für die Botschaft: „Nie wieder Krieg“ braucht man kein Requiem …

Natürlich nicht. Aber Britten sagt ja auch nicht, dass es keinen Krieg mehr geben wird. Er wusste, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht das Ende aller Kriege war. Schon bei der Uraufführung in Coventry tobte der Vietnam-Krieg. Wir werden also nie an einen Punkt kommen, an dem Pazifismus überflüssig ist. Trotzdem muss man immer neu darüber nachdenken, ob man einen Krieg führen soll – zum Beispiel in Afghanistan.

Warum führen Sie pazifistische Musik auf, wenn sie nichts nützt?

Wissen wir, dass sie wirklich nichts nützt? Ich hoffe, dass die Leute nach meiner Aufführung zumindest ein bisschen nachdenklich werden.

Was genau sollen sie denken: Wir brauchen mehr Zivilcourage, mehr Engagement?

Sie sollen vor allem etwas tun: Briefe schreiben, protestieren – darauf hinwirken, dass Kriege nicht stattfinden.

Sind Sie also noch so aufgewühlt wie bei der Uraufführung 1962?

Ja. Ich glaube, ich bin immer noch der Student, der ich mit 21 war. Und ich halte es für ein großes Versäumnis, dass ich mich politisch nicht engagiert habe in meinem Leben.

Sie versuchen mit der Aufführung jetzt also etwas nachzuholen?

Das klingt jetzt ein bisschen egozentrisch, aber ja: So ist es!

INTERVIEW: PETRA SCHELLEN

Sonntag, 19 Uhr, Hamburg, Laeiszhalle