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Archiv-Artikel

„Kein Ghetto für nette Gestalten“

Der russische Globalisierungsbeobachter Boris Kagarlitzky meint: Nationale Sozialforen sind wichtig zur Verankerung der Bewegung. Auf europäischer Ebene braucht es mehr Verständnis zwischen Ost und West. Derzeit ist Athen 2006 im Visier

INTERVIEW WOLFGANG POMREHN

taz: In Erfurt kommt das erste deutsche Sozialforum zusammen. Gibt es aus russischer Perspektive diesbezüglich besondere Erwartungen?

Boris Kagarlitzky: Nicht speziell an ein deutsches Sozialforum, aber an Sozialforen in Europa im Allgemeinen: Wir müssen die Bewegungen breiter machen und die Sozialforen besser verwurzeln. Zum einen, indem wir mehr lokale Gruppen einbeziehen, vor allem aber, indem wir die lokalen Themen mit der globalen Kritik am kapitalistischen System verbinden. Wir dürfen uns also nicht darauf beschränken, das System als Ganzes abzulehnen, sondern wir müssen einzelne Maßnahmen bekämpfen, die auf der lokalen beziehungsweise nationalen Ebene umgesetzt werden. Insofern sind nach den großen internationalen Sozialforen nationale wichtig, um die Bewegung besser zu verankern.

Gibt es gelungene Beispiele dafür in Russland?

Für uns war der Januar 2005 ein wichtiger Wendepunkt, als wir sehr erfolgreiche Massenproteste gegen ein Bundesgesetz hatten. Mit dem Gesetz Nummer 122 sollten soziale Garantien für die ärmsten Schichten der Bevölkerung, hauptsächlich für Pensionäre, abgeschafft werden. Aufgrund des starken Widerstands in der Bevölkerung ist ein großer Teil des Gesetzes gescheitert. Viele der Kürzungen mussten zurückgenommen werden. Für uns ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass wir den Menschen erklären: Das Gesetz 122 ist direkt mit den Verhandlungen im Rahmen des russischen Beitritts zur Welthandelsorganisation (WTO) verbunden. Die USA und die EU wollen, dass Russlands Dienstleistungssektor kommerzialisiert und privatisiert wird. Ziel des Gesetzes 122 war im Wesentlichen, Russland für den WTO-Beitritt fit zu machen. Im Augenblick geht es um einen ganz ähnlichen Kampf gegen eine so genannte Bildungsreform. Auch in diesem Fall gibt es einen direkten Zusammenhang mit der WTO, diesmal mit dem so genannten Gats-Prozess. Gats ist das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen. Die russischen Eliten versuchen, die Musterknaben des Neoliberalismus zu sein, gelehrige Schüler Washingtons und Brüssels.

In Russland gab es bereits einige regionale Foren und zuletzt im April ein erstes landesweites Sozialforum. Was waren die Ergebnisse?

Zunächst war angesichts der Schwäche der russischen Linken allein die Durchführung ein großer Erfolg. Logistisch und finanziell war es eine große Herausforderung. 1.200 Teilnehmer aus 70 Provinzen waren gekommen. Mit Ausnahme Sibiriens waren die meisten Teile des Landes vertreten. Das Forum hat die Menschen sehr begeistert, was auch damit zu tun hatte, dass die Stimmung nach den Erfolgen der Januarproteste sehr gut war. Zwei Initiativen, die inzwischen Gestalt annehmen, wurden auf dem Forum geboren. Zum einen geht es um die Koordinierung der verschiedenen lokalen Räte, die geschaffen wurden, um die Proteste zu organisieren. Am 15. Juli gibt es ein landesweites Treffen in Perm am Ural, auf dem die Perspektiven dieser Bewegung diskutiert werden. Zum anderen gibt es einen neuen Anlauf zur Bildung einer linken Front, die die verschiedenen politischen Organisationen, aber auch Einzelpersonen und Gewerkschaften zusammenbringen soll. Das ist angesichts der sektiererischen Natur einiger Gruppen eine wesentlich schwierigere Aufgabe, und wir wissen nicht, ob wir mit ihr Erfolg haben werden. Immerhin hat es im Juni eine Konferenz gegeben, um die Möglichkeiten einer linken Front zu diskutieren. Das Treffen war nicht so erfolgreich wie das Sozialforum. Aber wenigstens war man sich einig, dass man den eingeschlagenen Weg fortsetzen will.

Die Beteiligung aus Russland und den anderen osteuropäischen Ländern an den Europäischen Sozialforen in Florenz, Paris und London war nur sehr gering. Woran lag das?

Wir kämpfen mit verschiedenen Hindernissen, die zum Teil auch von unseren westlichen Kollegen errichtet werden. Zum einen gibt es finanzielle Probleme. Reisen kostet viel Geld. Zum letzten Europäischen Sozialforum im Herbst 2004 in London kamen wir mit 120 Leuten aus Russland. Es kostete uns erhebliche Zeit und Anstrengung, vom Organisationskomitee und westlichen Organisationen Unterstützung dafür zu bekommen. Andere Länder in Osteuropa haben gar nicht die entsprechenden Verbindungen und Leute, um sich diese Hilfe zu erkämpfen.

Aber es sind nicht nur die finanziellen Probleme. Die westeuropäischen Vertreter, die die Vorbereitungstreffen dominieren, sind oft sehr zögerlich, die Themen aufzunehmen, an denen wir interessiert sind. Das sehen nicht nur wir in Russland so. Das ist eine allgemeine Klage, die man von allen Osteuropäern, von Tschechen, Ungarn, Polen und so weiter, hören kann. Die Tagesordnung wird hochgradig von den westlichen Teilnehmern dominiert. Auf der einen Seite beklagen sich die westlichen Organisatoren über die mangelnde Teilnahme aus Osteuropa. Aber auf der anderen Seite müssen wir jedes Mal, wenn wir Themen für gemeinsame Veranstaltungen vorschlagen, zunächst erklären, dass wir sehr wohl das Recht haben, Änderungen der Tagesordnung zu verlangen. Die geringe Beteiligung ist also nicht so sehr von der tatsächlichen oder vermeintlichen Schwäche der osteuropäischen sozialen Bewegungen verursacht, sondern das Problem ist fehlendes Verständnis zwischen Ost und West.

Könnten Sie ein Beispiel vom letzten Europäischen Sozialforum geben?

Nach längeren Kämpfen konnten wir in London zwei von Russen organisierte Seminare durchsetzen. Soweit ich mich erinnere, gab es nur ein weiteres Seminar, das von anderen Osteuropäern organisiert worden war. Also im ganzen Programm bloß drei Veranstaltungen. Aber das Problem ist gar nicht mal, dass wir mehr Veranstaltungen über Osteuropa wollen. Wir wollen allgemeine Debatten, an denen auch Genossen aus dem Westen teilnehmen, die aber aus unserer Perspektive initiiert werden. Wir wollen kein exotisches Ghetto für diese netten Gestalten von außerhalb der westlichen Welt.

Was wäre nötig?

Es gibt im Westen einfach einen großen Unwillen, zu akzeptieren, dass im Osten irgendetwas von allgemeiner Bedeutung gesagt und geregelt werden könnte. Zu den lokalen Themen dürfen wir uns äußern, aber Allgemeingültiges kann es aus dem Osten nicht geben. Wir brauchten ein Sozialforum für Ost- und Mitteleuropa. Das könnte uns wirklich weiterbringen. Aber der Vorschlag wurde im Mai in Prag auf einem Vorbereitungstreffen für Athen abgeblockt. Dort wird im Frühjahr 2006 das nächste Europäische Sozialforum abgehalten. Im Augenblick konzentrieren wir uns auf Athen, aber dort werden wir das Thema sicherlich wieder zur Sprache bringen. Außerdem bemühen wir uns darum, dass Russisch endlich zu einer der offiziellen Sprachen der Europäischen Sozialforen gemacht wird, eine Forderung, die auch einige andere osteuropäische Freunde unterstützen.

Wolfgang Pomrehn ist Mitarbeiter der jungen Welt