: Sounds aus der Ohrenklinik
In der Kammeroper „Helmholtz Voocaal“ von Jan-Peter E.R. Sonntag geht es um den Universalgelehrten Helmholtz und Erkenntnisse über das Hören
Von Robert Mießner
Die Avantgarde kommt aus dem Biedermeier, sagt sinngemäß der Komponist Jan-Peter E.R. Sonntag am Montagabend, einen Tag vor dem 200. Geburtstag von Hermann von Helmholtz. Der Universalgelehrte Helmholtz ist als Physiologe und Physiker in das kulturelle Gedächtnis eingegangen, er ist bekannt als Entwickler des Augenspiegels und als Erforscher der Nervenfasern, es gibt die Helmholtz-Spule und den Helmholtz-Resonator.
Und ja, in Prenzlauer Berg hat der Universalgelehrte einen Platz, auf dem in den 90er Jahren ein Couplet gesungen wurde: „Helmholtzplatz, Helmholtzplatz, saufen bis der Schädel platzt“.
Was nun aber das, was an dieser Stelle grob vereinfacht moderne Geräuschmusik genannt sei, mit Helmholtz zu tun hat, darum geht es Jan-Peter E.R. Sonntag in seiner Kammeropern- und Installationstrilogie „Helmholtz Voocaal“, die seit drei Tagen und heute noch einmal am Tieranatomischen Theater in Berlin-Mitte auf dem Gelände der Charité zu erleben ist. Ausgangspunkt ist Helmholtz1863 erschienenes 600-Seiten-Werk „Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“. Helmholtz, der selbst musizierte und dem ein exzellentes Gehör bescheinigt wird, untersucht in drei Kapiteln, wie Naturwissenschaft und Ästhetik zusammenhängen, was also bei einer Schwingung und mit ihr im Ohr passiert und was dann zu den begrifflich nicht immer leicht fassbaren Geschmacksempfindungen führt.
Liest sich technisch, klingt aber in der Installation ziemlich umwerfend. Sonntag verwendet in seiner Trilogie Auszüge aus der „Lehre von den Tonempfindungen“ und kombiniert sie mit einem umfangreichen Arsenal an Noise-Musik. Drei Stationen sind es, die das Publikum im Theater durchlaufen muss. In der ersten, sie erinnert an ein klassisches Forschungslabor, wird die Performance mit Punk-Jazz im Stil der frühen Neunziger eröffnet, mit scharfkantigen Rhythmus-Splittern von Berliner Musikern: Biliana Voutskova an der Violine, Ignaz Schick an den Turntables und Schlagzeuger Oliver Steidle, dieser Teil der Vorführung wird als Videoprojektion gezeigt.
Fühlbar laut
Vor ihr sitzen Jan-Peter E.R. Sonntag und der Musiker Lars Gühlke in der Manier von Gelehrten des 19. Jahrhunderts – sie und die weiteren Beteiligten des Abends tragen Gehrock – in einem Helmholtz‘schen Klanglaboratorium. Es gibt eine Premiere, Gühlke spielt zum ersten Mal ein zweimanualiges Harmonium in „natürlicher Stimmung“, mit 24 Tönen pro Oktave, umgebaut und gestimmt genau nach den schriftlich überlieferten Vorgaben von Helmholtz aus der Mitte der 1850er Jahre. Zu hören gibt es einen hypnotischen Orgelsound, der von der Perkussion der Pedale getrieben wird.
Es hat schon seine Pointe, wenn das Publikum für die nächsten beiden Akte erst einmal Treppen steigen muss; es hat schon seinen Witz, wenn Jan-Peter E.R. Sonntag sagt, dass er der Sohn, Enkel und Urenkel von HNO-Ärzten ist. Den zweiten Teil des Abends hat er in einem Bibliothekszimmer angesiedelt, über Kopfhörer gibt es Sounds wie aus einer Ohrenklinik. Stationsarzt ist der Künstler Sebastian Pelz, vor sich hat er einige von Helmholtz‘ Akustik-Modellen und Apparaturen unter Glasglocken aufgebaut: den Phonographen, den ihm Thomas Alva Edison vermacht hatte, diverse gläserne und ein großer metallischer Resonanzkörper, ein Kehlkopf. Und eine Sirene.
Fühlbar laut wird es im letzten, im dritten Akt. Im Kuppelbau des Tieranatomischen Theaters, das Gebäude allein ist einen Ausflug wert, steht eine orgelpfeifenartige Apparatur, angelehnt an Helmholtz’ „Apparat zur künstlichen Zusammensetzung von Vocalklängen“, einem ersten elektroakustischen Synthesizer. Es fängt ganz sacht an, am Ende vibrieren Boden und Bänke. Der bange Blick auf eines der Kuppelfenster fängt einen gehörnten Schädel ein, er gehört tatsächlich zur Deckenillustration. Am Ausgang hängt allen Ernstes ein Hinweis: „Achtung! Sirenentest!“
U-A-I / VOOCAAL: 1. 9., ab 17.30 Uhr, Tieranatomisches Theater, Philippstraße 12/13
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