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Archiv-Artikel

Marsch auf Berlin

Andreas Ehrholdt hat die Montagsdemos gegen Hartz IV erfunden. Jetzt hat er eine eigene Partei. Und ein Ziel vor Augen: die Hauptstadt

AUS MAGDEBURG BARBARA BOLLWAHN

„Sollen jetzt Arme, Kranke und Hartz-IV-Empfänger den Karren aus dem Dreck ziehen?“ Diese Frage ist seit Samstag, schwarz gedruckt auf orangefarbenem Grund, auf einem Handwagen unterwegs. Gezogen wird der Holzkarren von Andreas Ehrholdt. Am Samstagvormittag 10.10 Uhr hat er sich im Regen vom Magdeburger Domplatz aus auf den Weg gemacht in das etwa 180 Kilometer entfernte Berlin. Freitagmittag will er dort den Bundestagsabgeordneten, der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten sagen, was die angestrebte Parlamentsauflösung in seinen Augen ist: ein Missbrauch des Grundgesetzes, eine Theateraufführung, eine Farce.

Der rollende Kummerkasten

Der 43-jährige korpulente Mann hatte es im vergangenen Jahr zu einiger Berühmtheit gebracht. Er hatte im Juli in Magdeburg eine Demonstration angemeldet: „Schluss mit Hartz IV – heute ihr, morgen wir“. Seinen Aufruf hatte er 200-mal kopiert, und es kamen dreimal so viele Menschen, wie Plakate in den Fußgängerzonen hingen. Eine Woche später hatte sich die Zahl verzehnfacht, und wiederum eine Woche später demonstrierten mehr als 10.000 in der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt gegen Hartz IV und die Reformagenda 2010. Erholdt hatte eine Protestwelle ausgelöst, die zeitweise über 200 Städte im Land erfasste. Der arbeitslose Bürokaufmann wurde über Nacht zu einem Helden des Aufbegehrens, das in „Wir sind das Volk“-Rufen kulminierte.

Dann ist es still um den ersten Montagsdemonstranten gegen die rot-grüne Bundesregierung geworden. Jetzt ist er wieder da. Statt über ein Megafon vermittelt er seine Botschaft mit einem Karren. „Wir müssen bis zum 22. in Berlin sein.“ Gemeint ist der 22. Juli. Spätestens an diesem Tag muss Bundespräsident Horst Köhler entscheiden, ob er den Bundestag auflöst. „Das ist ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz“, schimpft Ehrholdt und wickelt den Strick, mit dem er den Wagen zieht, um das Handgelenk. Beachtung findet er kaum. Vereinzelt drehen sich Jugendliche um.

Erholdt schaut konzentriert geradeaus. Der Wagen ist schwer. „Das sind so 75 Kilo.“ Darin hat er große Wasserkanister gepackt, Obst, Fisch- und Fleischkonserven, zwei Zelte, Medikamente und Insulin wegen seines Diabetes, Bücher über Einstein, den Dalai Lama, die Weltreligionen, „Schriften zur geistigen Erbauung“. Das Wichtigste liegt oben auf. Pappkartons in den Farben Rot, Grün und Schwarz-Gelb. „Das sind Kummerkästen“, erklärt er. „Da können die Leute Zettel reinwerfen, auf die sie ihre Probleme schreiben.“

Irritierend in dieser Farbpalette der Politik ist ein orangefarbener Karton. Orange ist die Farbe der von Ehrholdt im vergangenen Herbst gegründete Partei „Freie Bürger für Soziale Gerechtigkeit“ (FBSG). „Wir nehmen uns von den Beschwerden nicht aus“, sagt er. Die Mitgliederzahl der Partei, die sich „eine politische bürgerliche Selbstschutzorganisation“ nennt, liegt bei etwa 40. Ein Mitglied hat den Karren gesponsert, ein zweites Mitglied begleitet Ehrholdt. Es ist eine 44-jährige Rentnerin, die die Montagsdemonstrationen 2004 in Tangerhütte, einer Kleinstadt bei Magdeburg, organisiert und den Rat ihrer Ärztin in den Wind geschlagen hat, wegen ihrer Niereninsuffizienz besser nicht mitzulaufen. Deshalb will sie ihren Namen lieber nicht nennen.

Sechs Tage lang wollen die beiden die Bundesstraße 1 entlanglaufen und in Burg, Genthin, Brandenburg, Werder an der Havel, Potsdam und all den Orten auf der Strecke „das Volk aufrütteln“ und „an das Gewissen der Bürger appellieren“: „Die Leute sollen sich genauer anschauen, wie das Grundgesetz aussieht. Schröder hat mit dem Misstrauensvotum einen Fehler gemacht.“ Dass die Proteste im vergangenen Jahr so schnell verschwunden wie sie entstanden sind, damit hat sich Ehrholdt abgefunden. „Es gibt ein Recht, aber keine Pflicht zum demonstrieren.“ Er spricht von einer „Modeerscheinung“. Ein Wort, das den Mann in Jogginghose und Turnschuhen, Kunstlederjacke und orangefarbener Warnweste mit Silberstreifen und mit einem Kompass um den Hals zu einem Vergleich mit der Modewelt inspiriert. „Lagerfeld muss sich auch öfter einen Kopf machen.“ Sicher, räumt er ein, habe er sich das anders vorgestellt. „Ich dachte bei den Nachbesserungen, jetzt kommen die Leute erst recht, um mehr rauszuholen.“ Aber jetzt ist er ja mit seinem Karren unterwegs. Und jeder, den er auf seinem Weg nach Berlin dazu bringt, darüber nachzudenken, „was ihm zusteht“, ist für ihn ein Gewinn. Früher war Ehrholdt Transportarbeiter bei der Deutschen Reichsbahn. Dann wollte er in den Westen, wurde aus der SED ausgeschlossen, und flüchtete über die Botschaft in Budapest in die Bundesrepublik. Wenige Wochen nach dem Mauerfall kam er zurück in die vertraute Umgebung. Im vereinten Deutschland wurde er krank, durfte keine körperliche Arbeit mehr machen und ließ sich zum Bürokaufmann umschulen. Seit sieben Jahren ist er arbeitslos, seit Anfang des Jahres Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Nachbesserungen bei Hartz IV? „Wir wollen Arbeit statt Almosen“, sagt er und zieht den Strick über der Schulter fest.

Was die Politiker vom Volk halten

Wenn es im September wirklich Neuwahlen gibt, wird Ehrhardt ungültig stimmen. Mit der CDU befürchtet er „noch rigorosere Streichorgien“, Lafontaine und Gysi von der WASG und der demokratischen Linken sind für ihn „abgehalfterte Politiker, die Zuflucht gesucht haben“, und für seine eigene Partei reicht die Zeit zum Antreten nicht. Wenn am Freitag keiner der von ihm eingeladenen Politiker zu seiner „Abschlusskundgebung“ an der Gedächtniskirche kommt, wird das für ihn kein Grund zur Enttäuschung sein, sondern vielmehr eine Bestätigung. „Dann sieht man, was sie für das eigene Volk übrig haben. Gar nichts.“