ausgehen und rumstehen : Trotz ätherischer Kost: Kerben im Hirn und mahlende Männerkiefer
Jetzt, wo sich mein Pendlerdasein nicht mehr nur auf Stadtteile, sondern auf ganze Städte erstreckt, jetzt mache ich Pläne. Wochenpläne, aber auch Wochenendpläne. Denn der Masterplan, den ich mir als Ausgleich für die Entbehrungen des Reisens geschmiedet habe, heißt: „Du musst das Beste aus zwei Welten mitnehmen.“ Ein Satz, den ich mir nicht ausgedacht, aber inzwischen so oft gehört habe, dass er mir irgendwann als selbstverständlich erschien. Also los am Donnerstag, der frühe Abend braucht nicht viel: ein Berliner Bier, einen Freund und diesen tollen Japaner in der Lychener Straße, den es wohl schon länger gibt, leider bislang ohne meine Kenntnis. So erfrischend wirkt diese ätherische Kost, dass die Nacht von mir aus noch so lange dauern kann, wie sie will. Und sie will, was für eine Frage, schließlich ist die nächste Destination der beliebte Kreuzberger Festsaal. Dort ist geplant, Kevin Blechdom zum ersten und die fantastische, unvergessliche Planningtorock zum zweiten Mal live zu sehen. Leider schlägt nach der Hälfte des Abends der Jetlag plötzlich eine Kerbe in mein Gehirn. Ich falle in eine Art Wachkoma und kriege noch mit, dass ich diesen französischen Mucker (Electronicat?) bescheuert, Max Tundra (oder Turner? Jedenfalls den mit der Krähe auf dem Arm!) ganz gut finde. Irgendwann kommen Helfer und tragen mich weg.
Am Freitag: ein Plan und viele Termine. Und wieder gibt es Japanisch, diesmal aber umsonst. Ein Musik machendes Model ist mit seinem Freund an einen geheimen Ort in Mitte gekommen, den sich ein bei Normalos wie Szenepeople gleichermaßen gefeierter Hersteller von Sportbekleidung ausgedacht hat. Das Model ist freundlich, gibt gerne Auskunft und scheint trotz Welterfolgs sehr bodenständig geblieben zu sein. Es trinkt sogar Cola ohne Light, und zwar mehrfach.
Am Abend dann wieder Kreuzberg, das Ziel ist eine Kneipe namens Morgenland am Görlitzer Bahnhof. Dort sitzt ein Tisch voller betrunkener Stuttgarter Gymnasiallehrer auf Klassenfahrt, mittendrin meine Lieblingscousine unter den Cousinen meiner Mutter. Ich habe sie besonders fest in mein Herz geschlossen, weil sie ein loses Mundwerk führt und mir ihr Frauenzeichen aus lila Emaille geschenkt hat, als ich zehn war. Seitdem hat sie Karriere gemacht: „In der Abizeitung werde ich ‚der schwarze Drache‘ genannt“, erzählt sie und erhebt sich von ihrem Platz, breitet ihre schwarzen Gewänder aus und ruft „Buuuhuuu!“. Später ermuntern mich die Lehrer, noch tanzen zu gehen, und übergeben mich den schützenden Armen des WMF, wo heute mein Lieblings-DJ Koze auflegt.
Gott, ist das voll in dieser seltsamen architektonischen Mixtur aus Stasi-Zentrale und Ibiza-Strandbar! Es ist noch nicht mal zwei, und der Laden steht schon Kopf. Um Hitze, Durst und Drogenwirkung bei den Besuchern noch zu steigern, blasen die schlauen Clubbesitzer immer wieder sehr viel Nebel in den Raum. Das macht die Leute glücklich, sie schwitzen sich gegenseitig und den unter einem bunt blinkenden Sternenhimmel stehenden DJ an, der irgendwann einen unfassbaren Remix von Tocotronics „Pure Vernunft darf niemals siegen“ spielt. Dafür nochmals vielen Dank.
Ein seltsames unter den vielen guten Gefühlen behalte ich nach solchen Nächten aber trotzdem immer zurück: eines, das entsteht, wenn ich mich ab einer bestimmten Uhrzeit unter fäustereckenden, mit den Kiefern mahlenden Männern auf der Tanzfläche wiederfinde. Dann bekommt Techno plötzlich diesen Hautgout, dann ist er kein Glücklichmacher mehr, sondern eklige, entmenschte Herrschermusik. Gut, dass ich den Tag heute mit Rückenstreicheln verbringen darf. LORRAINE HAIST