Isolde Charim
Knapp überm Boulevard
: Das Sinnbild der Einzelnen

Foto: privat

Nun also auch noch ein Referendum. Zuerst war da das ungarische Gesetz, das sich gegen nicht heterosexuelle Menschen richtet. Das Gesetz verbietet unter anderem Werbung, in der Homo- oder Transsexuelle als „Teil der Normalität“ erscheinen. Nun also soll das ungarische Volk über dieses Gesetz abstimmen. „Würde Brüssel uns nicht angreifen, brauchte es kein Referendum“, so Victor Orbán in einer unnachahmlichen Volte.

Tatsächlich hat das Gesetz zur Einschränkung von LGBTQI-Rechten viel Staub aufgewirbelt. Es hat große Emotionen und heftige Reaktionen hervorgerufen. Wie die Protestnote von 17 EU-Staats- und -Regierungschefs, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ. Nun hat die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete das ungarische Gesetz unmissverständlich als „Schande“.

Orbáns Intentionen sind durchschaubar. Aber in der Hitze der Empörung über das ungarische Vorgehen gibt es etwas, was man leicht übersieht: dass nämlich die Reaktion der Europäischen Union von ihren höchsten Repräsentanten abwärts absolut erstaunlich ist. Man nimmt sie als selbstverständlich hin, wo sie doch alles andere als selbstverständlich ist. Beziehungsweise bis vor Kurzem noch war.

Die allgemeine Empörung lässt vergessen, dass sowohl die Aufmerksamkeit für die Thematik als auch die vehemente Wortwahl durchaus bemerkenswert sind. Noch vor 20, 30 Jahren wäre es nicht möglich gewesen, dass ein Staats- oder EU-Kommissionschef sich solcherart positioniert. In dieser Zeit gab es einen schleichenden, aber darum nicht weniger massiven Umschwung.

Die Schwulen- und Lesbenbewegung, die in den 1960er Jahren an Fahrt aufnahm, war damals vorwiegend eine Subkultur. Ende der 1980er Jahre war etwa an der Freien Universität in Berlin das beliebteste Studentencafé das Schwulencafé – weit über die Zielgruppe hinaus. Weil es mit seiner Ironie und Ästhetik einen Subkulturcharme hatte. Von einem Pride Month, der sich über ganze Städte erstreckt, war man da noch Lichtjahre entfernt. Und als 1996 das erste Mal die Regenbogenfahne an einem öffentlichen Gebäude gehisst wurde, löste das den Berliner „Flaggenkrieg“ aus. Vor allem die CDU wollte das verhindern. Und heute bezeichnet die deutsche CDU-Politikerin von der Leyen ein Anti-LGBTQI-Gesetz als „Schande“.

Heute ruft die Frage der LGBTQI-Rechte die EU-Spitze auf den Plan. Mehr noch: Sie eröffnet eine Trennlinie zwischen West- und Osteuropa, die nahezu entlang der alten Grenze des Kalten Kriegs verläuft. Auch wenn man in der taz kürzlich lesen konnte, dass diese Trennlinie eine Konstruktion sei, ein Ersatzkampf gegen die eigene Benachteiligung, so stellt sich doch die Frage: Warum kann sich ein europäisches Schisma an dieser Frage entzünden? Warum wird ein sogenanntes Minderheitenthema so aufgeladen, so zentral? Warum wird ausgerechnet an dieser Frage ein europaweiter politischer Kampf ausgetragen?

Und da könnte man sagen: Es ist den Schwulen- und Lesben, späterhin auch den Queerleuten gelungen, nicht nur zum „Teil einer Normalität“ zu werden (was das ungarische Gesetz ja abwehren möchte). Sie sind vielmehr zu exemplarischen Individuen geworden. Sie stellen eine besondere, eine paradigmatische Form von Individualität dar. So individuell, dass sie alle geschlechtlichen Normen bis hin zur geschlechtlichen Identität zurückweisen. Auch wenn die überwiegende Mehrheit nicht LGBTQI sein mag – so haben diese doch gerade als Minderheit einen besonderen Status erlangt: Sie sind zu einem Sinnbild geworden. Zum Inbegriff des Einzelnen, der alle Kategorien, alle vorgegebenen Identitäten infrage stellt. Und genau daran entzündet sich das europäische Schisma. Genau hier verläuft die Trennlinie.

Das Bild dafür hat die ungarische Partei Jobbik übrigens schon im Jahre 2014 geliefert. Sie zog damals mit einem Plakat in den EU-Wahlkampf, auf dem Conchita Wurst kurz nach ihrem Sieg beim Songcontest neben einer Blondine in Nationaltracht stand. Darüber fettgedruckt: Wähle!

Die Autorin ist freie Publizistin in Wien