Nur noch Herr Schröder

Political Studies (II): Heutzutage ist die symbolische Funktion demokratischer Politik von größtem Gewicht. Die Aura der Macht aber haben der Kanzler und Rot-Grün geradezu leichtfertig abgegeben

■ Wie immer die Neuwahlen ausgehen – auf dem weiten Feld zwischen Politik und Leben hat sich etwas verschoben. Was kann Politik, was soll sie können, was nicht? In unserer Serie „Political Studies“ überlegen AutorInnen, welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt, ob die offizielle Politik das Politische noch repräsentiert

von ISOLDE CHARIM

Wieso wird Rot-Grün seit Wochen von allen Seiten begraben? Und – wieso wundert sich eigentlich niemand darüber? Man weiß nicht, was erstaunlicher ist. Auf der einen Seite gab es verlorene Regionalwahlen, eine überstürzte Ankündigung von Neuwahlen und schlechte Umfragewerte. Dies ist zugegebenermaßen keine wirklich glanzvolle Position – aber ist dies schon der Untergang, als der er seit Wochen in sämtlichen Medien, egal welcher Couleur, in ungeahnter Einhelligkeit besungen wird? Wieso wird der Bär begraben, noch ehe er erlegt ist? Und – wozu wählt man eigentlich noch, wenn ohnehin allen klar ist, dass Frau Merkel bereits Kanzlerin ist und Rot-Grün – ja was denn? Abgewählt? Das scheint kaum das richtige Wort für jene schicksalshafte Wende zu sein, die eine einheitliche Front an Totengräbern erzeugt. Es muss da etwas anderes gegeben haben, das solche Reaktionen hervorrief, die Ursache dieser Wirkung muss eine andere sein als dieser gewöhnliche demokratische Vorgang einer –wenn auch vorgezogenen – Volksbefragung. Etwas, das diesem Appell ans Volk jene existenzielle Dimension gibt, zu der diese Reaktion passt.

Bevor man dieses „Etwas“ betrachtet, muss man sich aber vor Augen führen, wie speziell diese Reaktion ist: In nichtkonservativen Kreisen reicht diese von einer emotionslosen Trauer bis hin zu einer gleichgültigen Wut.Diese Reaktion muss als Indikator verstanden werden, als Hinweis auf das, was tatsächlich passiert ist. Dieses „Etwas“ ist das, was Rot-Grün und die Sowjetunion gemeinsam haben: die Implosion der Macht. Man versteht nicht, warum, aber plötzlich gibt es diesen existenziellen Moment, wo eine Macht implodiert, sie keine Macht mehr ist.

In demokratischen Gesellschaften hat die politische Macht zwei Funktionen: Neben den bekannten realpolitischen Agenden hat sie noch eine ungewusste, aber nichtsdestoweniger wesentliche symbolische Aufgabe: Sie muss den Ort der Macht kenntlich machen. Dazu muss sie ein Bild von sich entwerfen, das ihre Differenzen gegenüber dem Rest festhält. In diesem Sinne ist sie nicht, wie Stefan Reinecke letzte Woche an dieser Stelle schrieb, „ein Subsystem neben anderen“. Die demokratische politische Repräsentation muss vielmehr die Rolle einer „radikalen Andersheit“ (nach dem Wort des französischen Theoretikers Claude Lefort) gegenüber der Gesellschaft einnehmen. Darin besteht ihre symbolische Dimension. Diese hat zwar nicht die Beschaffenheit der Wirklichkeit, ist aber dennoch zentral für ihr Funktionieren. Gerade heute, wo der Politik zunehmend die Steuerungskompetenzen abhanden kommen, gerade heute, wo die Interessensvertretung zugunsten der neoliberalen Wirklichkeit der Sachzwänge zurückweicht, gerade heute also ist diese symbolische Funktion demokratischer Politik wesentlich. Wenn Reinecke schreibt, Politik sei zum Stil geworden, so sollte man dies präzisieren: Die symbolische Funktion der Macht erhält heute ein unvergleichliches Gewicht.

Wenn das bricht, wenn es ihr nicht mehr gelingt, diesen Abstand aufrechtzuerhalten, dann implodiert sie. Und genau das ist nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen passiert. Schröder ist der Rückfall der Macht in die „Welt der gemeinsamen Lebensumstände“ (Lefort) passiert, anders kann man es nicht nennen. Genau dies darf einem Politiker aber nicht passieren. Deshalb kann ihn heute ein TV-Moderator anlässlich seiner USA-Reise ganz ungeniert fragen, „mit wie viel Autorität“ er eigentlich noch mit Bush über deutsche Außenpolitik spreche. Und er muss antworten: „Mit der Autorität des deutschen Bundeskanzlers.“ Schröder hat die Aura der Macht gebrochen. Das ist unverzeihlich.

Wenn nun viele Kommentatoren wiederholen, Rot-Grün sei wirtschafts- und sozialpolitisch gescheitert, sie hätten jedoch symbolpolitisch eine erfolgreiche Bilanz vorzuweisen, so muss dem ganz heftig widersprochen werden. Nein, das, was das Fehlschlagen von Rot-Grün unwiderruflich macht, ist nicht deren Realpolitik, sondern deren Pervertierung der symbolischen Funktion der Macht. Jetzt können sie den Ort der Macht nur noch besetzen, wie man eine Toilette besetzt – ausfüllen können sie ihn nicht mehr.

Nicht einmal ein politisches Repräsentationskaliber wie Fischer kann dies noch. Auch wenn er als Einziger noch Willen zur Macht demonstriert und von „Sieg“ spricht. Die Implosion der Macht bestand im Verlust des Bildes von der Macht, einem Verlust, der die Partikularität der Akteure wieder sichtbar gemacht hat. Selbst die „gelungene“ Performance im Bundestag anlässlich der Vertrauensfrage kann dies nicht rückgängig machen: Der Kanzler ist zum Herrn Schröder geworden. Das ist es, was diese schale Trauer, diese leichte Übelkeit hervorruft. Das macht das Uneinholbare, das Unwiderrufliche des Geschehens aus – ohne das man nicht verstehen würde, warum alles noch vor den Wahlen verloren sein sollte. Deshalb nehmen alle bereits jetzt Abschied, deshalb hat die Zeit der Trauerarbeit ohne Trauer längst begonnen.

Dieses Scheitern hat aber noch eine zweite – teilweise widersprüchliche – Ursache. Denn die Macht muss nicht nur beständig daran arbeiten, als Anderes wahrgenommen zu werden, um als Macht funktionieren zu können, das heißt, um ihr fundamentales Glaubensverhältnis herstellen zu können. Sie muss gleichzeitig und gerade als Andere auch eine Wiedererkennung herstellen, die dazu führt, dass gesellschaftliche Kräfte sich durch sie repräsentiert fühlen. Dies ist ein heikler Punkt. Bei Rot-Grün gab es die Versuchung, diese Repräsentation wie die Identifizierung mit einem Popstar (miss-)zuverstehen. Rot-Grün schien nochmals das Versprechen zu sein, Lebenswelt und Politik (in Demokratien notwendig getrennt) zur Deckung zu bringen. Diesmal nicht totalitär. Rot-Grün verhieß, diese Differenz zum Verschwinden zu bringen: Es sollte nicht nur Interessen, sondern auch Identitäten repräsentieren. Dies hat notwendigerweise nicht stattgefunden.

Das Scheitern, denn um ein solches handelt es sich, ist also ein doppeltes: Der Versuch, das Gleiche zu sein, wie die Gesellschaft, aus der man kommt, misslang, da die Machtposition eben eine Differenz herstellt. Aber auch der gegenteilige Versuch, nämlich der, Macht, also etwas anderes zu sein, schlug fehl: Nun sind sie wieder gleich.

Dies erklärt die seltsame emotionale Emotionslosigkeit, die die aktuellen Ereignisse begleitet: Die Abgeklärtheit rührt daher, dass dies als ebenso unwiderrufliches wie folgerichtiges Ende wahrgenommen wird. Die Trauer aber gilt dem wahrscheinlich letzten Versuch, die Vielfalt und Buntheit gesamtpolitisch zu repräsentieren. (So ist es kein Zufall, sondern vielmehr die Wahrheit eines Symptoms, dass die Implosion von Rot-Grün ausgerechnet Platz für die Linkspartei eröffnet hat. Ob diese das Vakuum, das sich da aufgetan hat, füllen können wird, sei dahingestellt.) Kalt bleibt die Trauer, da die politischen Energien, die Rot-Grün gespeist haben, sich längst gewandelt haben. Der Versuch trug von vornherein den Makel der historischen Verspätung. Nun erst, ob dieses doppelten Scheiterns, wird es zu einem endgültigen Auseinanderdriften von Lebenswelt und Politik kommen.

Dies scheint nicht Ursache, sondern Folge der jüngsten Ereignisse zu sein. Ob sich daraus die Hoffnung einer emanzipativen, weil „starken“ Gesellschaft ablesen lässt, wie Reinecke dies postuliert, sei dahingestellt. Klar ist aber, dass sich hier etwas aufgetan hat, das weit über die rot-grüne Epoche hinausgeht. Denn es hat etwas offenbar werden lassen, was längst unterschwellig präsent ist, etwas, was gerade Rot-Grün noch einmal aufhalten sollte: die generelle Krise der politischen Repräsentation. Das Ausmaß der Krise wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass sie auch die Gegner, die zukünftigen „Sieger“ erfasst hat.

Denn genau dieser Bruch der Aura der Macht ist es, der Kommentatoren (etwa in der Zeit) bereits heute schreiben lässt: „So paradox es klingt: Die Deutschen werden eine Regierung wählen, von deren Projekt, Rhetorik und auch Leitfiguren sie bereits jetzt die Nase voll haben.“