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Archiv-Artikel

Die WM wird uns retten

Nach den Londoner Anschlägen erwägt die Politik, die Sicherheitsgesetze zu verschärfen. Aber „weiche Ziele“ kann niemand zuverlässig schützen

VON CHRISTIAN RATH

Seien wir nicht zynisch. Natürlich ist es legitim, dass sich Sicherheitspolitiker wie Otto Schily (SPD), Wolfgang Bosbach (CDU) oder Konrad Freiberg von der Gewerkschaft der Polizei nach einem Terroranschlag Gedanken machen, ob in Deutschland Gesetze verschärft werden müssen. Und es ist zumindest verständlich, dass die Vorschläge, die dann geäußert werden, keine neuen Ideen sind, sondern das, was ohnehin gerade diskutiert wird oder was man in der letzten Verschärfungsrunde noch nicht durchsetzen konnte. Entscheidend ist, wie die Gesellschaft darauf reagiert. Ob sie erschrickt und in Panik verfällt. Oder ob sie die Vorschläge nüchtern prüft und in Rechnung stellt, dass hier Lobbyisten von Ressorts und Verbänden sprechen, teilweise auch Wahlkämpfer.

Bisher können wir mit der deutschen Diskussion nach London durchaus zufrieden sein. Es gab die erwartbaren Vorschläge, aber sie haben es nicht geschafft, die Stimmung in Deutschland zu drehen. Nicht der Ruf nach neuen Anti-Terror-Gesetzen steht oben auf der Agenda, sondern der Kampf gegen Arbeitslosigkeit, der VW-Skandal und die Tour de France.

Nach den Anschlägen von New York und Washington war das anders. Damals stampfte die Bundesregierung schnell zwei Anti-Terror-Pakete aus dem Boden. Und die Union nutzte die Anschläge von Madrid, um im Rahmen der Zuwanderungsverhandlungen eine erleichterte Ausweisung von „gefährlichen Islamisten“ durchzusetzen. Doch auch damals ging es eher um Details und darum, dass die Politik überhaupt reagiert. Wer kann heute noch sagen, welche Maßnahmen zum Sicherheitspaket II gehörten?

Inzwischen hat die Bundesregierung das Anti-Terror-Paket evaluiert und im Mai einen Bericht vorgelegt. Ergebnis: Die neuen Befugnisse waren irgendwie sinnvoll und wurden sehr zurückhaltend genutzt. Beispiel: Ganze 29-mal hat der Verfassungsschutz bei Kreditinstituten nach Geldbewegungen potenzieller Terroristen gefragt. Die Grünen erklärten sich daraufhin grundsätzlich mit einer Verlängerung der Anti-Terror-Gesetze einverstanden.

Die ist im Bundestag noch nicht beschlossen worden. Teils weil auch Schily von den Neuwahlen überrascht wurde, teils weil in der Koalition noch über Details verhandelt wird. Sollen sie wieder auf fünf Jahre befristet werden? Soll der Verfassungsschutz auch auf die Daten der Kontenzentrale zugreifen dürfen – damit er überhaupt weiß, welche Banken er fragen kann? Die Verlängerung des Sicherheitspakets II wäre wohl die ideale Antwort auf London – es würde sich nichts ändern, der Staat hätte trotzdem Reaktion gezeigt.

Hintergrund der deutschen Debatte ist bisher natürlich, dass die Sicherheitsdienste derzeit nicht mehr als eine „abstrakte“ Terrorgefahr ausmachen können. Die Angriffe von al-Qaida galten bisher vor allem den USA und ihren Helfern, während Deutschland den Angriffskrieg gegen den Irak abgelehnt hat. Doch was gilt nach einem Wahlsieg von Angela Merkel? Noch ist unklar, wie sich die deutsche Sicherheitslage dann entwickelt.

Und dass die Fußball-WM ausgerechnet jetzt in Deutschland stattfindet, macht die Nervosität der Sicherheitspolitiker auch verständlich. Natürlich ist jeder Staat ständig voll von „weichen Zielen“, von Menschenansammlungen, die einfach nicht sicher zu schützen sind, in der U-Bahn, auf Plätzen, vor Fabriktoren. Aber die WM ist ein weltweites Ereignis, und al-Qaida hat bisher durchaus einen perfiden Sinn für die Symbole der westlichen Welt bewiesen. Umgekehrt sichert uns vielleicht auch gerade die WM vor allzu nervösen Reaktionen der Sicherheitspolitiker. Deutschland soll ein fröhliches, kein angespanntes Fußballfest erleben. Und Touristen aus aller Welt sollen sich als Gäste und nicht als potenzielle Terroristen fühlen.