Vertauschte Politik
: kommentar von ralph bollmann

Das Wahlprogramm der Union mag nicht in allen Punkten finanzierbar sein, erstaunlich offen ist es schon. Traditionell verspricht in Wahlkämpfen die Opposition einen allzeit blauen Himmel, und die Regierung sagt trotz trüben Wetters, wir hätten ihn schon. Doch diesmal ist alles anders.

Als Gerhard Schröder am Abend des 22. Mai die Flucht in aussichtslose Neuwahlen ankündigte, gestand er damit sein Scheitern ein und verschaffte Angela Merkel das in der Verfassung nicht vorgesehene Amt der designierten Kanzlerin. Daraus folgt ein Wahlkampf mit verkehrten Fronten. Die Union verkündet die Zumutungen, vor allem eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, die in allen früheren Wahlkämpfen tabu war. Und die SPD macht dagegen Front, als seien die klammen Sozialkassen nicht mehr ihr Problem.

Die Offenheit der Union hat neben der Logik der vertauschten Rollen aber noch einen weiteren Grund, der ebenfalls im Scheitern von Rot-Grün begründet liegt: Nach der abgrundtiefen Enttäuschung des Wahlvolks von Schröders Politik hätte es unabsehbare Folgen für das politische System als Ganzes, wenn einer Kanzlerin Merkel innerhalb kürzester Zeit die gleiche verdrossene Stimmung produzierte wie ihr Vorgänger. Dass Rot-Grün soziale Wohltaten versprach und anschließend Hartz IV beschloss, mag zwar für die Betroffenen bitter sein – für die Demokratie aber ist die Belastung aushaltbar, solange es mit der Union eine Alternative gibt. Sollte aber Merkel scheitern, bevor sich die SPD erholt hat, dann ist keine Rettung mehr in Sicht. Dann verfällt das Land im günstigsten Fall in eine tiefe Depression, im ungünstigsten Fall in eine Panik, die weitaus gefährlicheren Populisten als Oskar Lafontaine den Weg ebnen könnte.

Das weiß die CDU-Chefin, und deshalb rückt sie von allzu riskanten Reformprojekten wie der Kopfpauschale oder unhaltbaren Versprechungen wie einem raschen Haushaltsausgleich wieder ab. Das wiederum könnte in vielen Fällen Kompromisse mit der SPD erleichtern, falls das Wahlergebnis doch eine große Koalition erzwingt. Dann hätten sich jene Sozialdemokraten zu früh gefreut, die sich schon jetzt mit einer gewissen Erleichterung in der Opposition eingerichtet haben.