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Archiv-Artikel

Das Blaue vom Himmel

Die Wahlprogramme der Parteien – ein Ausblick auf die Neuqualen

Die Grünen wollen den Verkehr beruhigende Elefanten in Großstädten ansiedeln

Was für ein süßes Mediengesäusel in den vergangenen Tagen, als unsere Parteien ihre bunten Wundertüten präsentierten. Bei der SPD heißt das Wahlprogramm „Wahlmanifest“, bei der CDU gleich „Regierungsprogramm“, bei der FDP figuriert die Zettelsammlung als „Bürgerprogramm“, bei den Grünen nur als „Wahlprogramm“ und bei der PDS/WASG – Überraschung! Augen zu! – womöglich als „Gerechtigkeitsfahrplan“.

Sehr beruhigend zu wissen, dass jede der Parteien, wie immer die anstehenden Wahlen ausgehen werden, ganz genau weiß, wo’s langgeht. Deutschland ist jetzt schon mit absoluter, an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit gerettet. Sei es durch den Steuerzuschlag für Reiche, den die SPD neu erfunden hat; sei es durch die Anhebung der Mehrwertsteuer, die zur neuen Geheimwaffe der CDU geworden ist; sei es durch die Bürgerversicherung, mit der die Grünen den Befreiungsschlag ausführen werden; die Absenkung der Sockelpauschale bei der Salzsteuer durch die FDP oder die Fahrpreisermäßigung für alleinerziehende Anglerinnen in Ostdeutschland, mit der die PDS/WASG dem Ausverkauf von Arbeitnehmerrechten eine endgültige Absage erteilt. Wahlprogramme – gäbe es sie nicht, man müsste sie erfinden.

Nichts spricht gegen sie, dass niemand sie studiert, keine Regierung sich an sie gebunden fühlt, geschweige denn auch nur ein einziger Wähler glaubt, was sie verkünden. Wahlprogramme sind der reine Wahn. Egal, ob Helmut Kohl von „blühenden Landschaften“ singt oder Willy Brandt einen „blauen Himmel über der Ruhr“ imaginiert, ob die SPD mit der Halbierung der Arbeitslosenzahl das Kunststück der schwebenden Jungfrau überbietet, die FDP die Abschaffung der Steuergerechtigkeit elegisch herbeidichtet oder die Grünen neusachlich die Beschränkung der Schleuderdrehzahl bei Waschmaschinen antexten – immer wieder das Blaue vom Himmel. Wahlprogramme sind der dernière cri der Fiktion.

Unvergessene Sternstunde der Lyrik, als Franz Müntefering bei der letzten Wahl ausrief: „Deutschland muss sich neu aufstellen. Deutschland muss wissen, dass wir nicht automatisch an der richtigen Krümmung des Flusses liegen.“ Mit solch gequirteltem Verbalstuhl gewinnt man Wahlen, und es spricht Bände, dass die SPD in ihrem aktuellen „Wahlmanifest“ nichts dergleichen vorzuweisen hat. Anders die CDU, für die Angela Merkel bei der Vorstellung ihres „Regierungsproramms“ supervisionierte: „Der Staat muss Gärtner sein und darf nicht Zaun sein, wenn er Wachstumspolitik betreiben will.“

Um die Macht der Poesie und die Zauberkraft der Märchenwelt wissen Politiker seit langem. Die Klügeren von ihnen haben schon vor Jahren begonnen, die in den Wahlprogrammen enthaltenen Fantasy-Elemente auszubauen und auszuschmücken. George W. Bush beispielsweise stellte zuletzt nicht weniger als die Besiedlung des Mars in Aussicht und gewann mit diesem ehrgeizigen Nahziel am Ende die Wahl. Wie gern läse man in deutschen Wahlprogrammen von vergleichbaren Projekten! Von Visionen, die entertainen! Von Himmelsstürmereien, die Perplexität herstellen.

So würden sich die Grünen ganz neuen Respekt verschaffen, wenn sie etwa die Ansiedlung von den Verkehr beruhigenden Elefanten in unseren Großstädten auf die Agenda setzten. Die SPD wäre mit einem Paukenschlag aus ihrem Umfrage-Dauerdesaster heraus, wenn sie ihren Wählern die Bekanntgabe der wöchentlichen Lottozahlen schon am Freitagabend in die Hand verspräche. Auch die CDU hätte die Wahl schon sicher in der Tasche, würde sie jedem Bürger seine persönliche Autobahnauffahrt hundertprozentig garantieren. Das FDP-Bürgerprogramm könnte ganz anders einschlagen mit einem Passus, der die Umwandlung aller deutschen Finanzämter in steuerbegünstigte Massageclubs zum Staatsziel erhöbe. Und die PDS/WASG? Nähme sie die Wiedererrichtung der Mauer – diesmal mit Beton aus dem Westen – ins Programm, sie stellte mit Sicherheit nach den Neuwahlen im Herbst die nächste Regierung.

„Die Wahl, die Wahl“, schrieb Kurt Tucholsky einmal, „ist der Rummelplatz des kleinen Mannes. Alle paar Jahre kann er mal so tun, als ob er tun können täte.“ Ein Rummelplatz – das wäre wenigstens noch was. Aber diese goldenen Zeiten sind leider unwiderruflich passé.

RAYK WIELAND