: Das große Lesenlassen
LITERATURFESTIVAL Autoren, Dolmetscher, Schauspieler lasen zwei Wochen lang aus internationalen Büchern vor. Nicht immer war es beste Unterhaltung
Eigentlich kommt die Literatur hervorragend ohne Events aus. Das Buch als Ding ist ja eher für den individuellen, meist stillen, Gebrauch vorgesehen; andererseits lässt es sich, wenn sich dafür jemand findet, auch vorlesen. Dass für diese Lektürevariante ein riesiger Bedarf besteht, der im privaten Bereich nicht angemessen befriedigt wird, bezeugt die Existenz eines Großereignisses wie des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Das Festival, nun schon in seinem neunten Jahr, ist eine überbordende Feier der Vorlesekultur. Fast dreihundert Veranstaltungen an zwölf Tagen vereinte es dieses Mal unter seinem Dach, und damit ist es wieder ein Stück gewachsen. Außer Lesungen gehörten auch Diskussionen, Konzerte und Filme zum Programm, denn die Literatur reicht weit.
Den Überblick zu behalten ist da ein vergebliches Unterfangen, und am besten lässt man sich treiben im Strom des großen Lesenlassens. Schön ist es, die aus unterschiedlichsten Weltgegenden angereisten AutorInnen in ihren eigenen Sprachen zu hören. Da gab es dieses Jahr überdurchschnittlich viele Varianten des Arabischen, denn der Schwerpunkt des Festivals lag auf dem Fokus „Arabische Welt“. Und schön ist es, die deutschen Übersetzungen aus dem Munde berufener SchauspielerInnen genießen zu können. Da das Festival einen Eventcharakter zu verteidigen hat, wird der Part des Übersetzungsvorlesers an Professionelle vergeben statt, wie sonst oft üblich, an Übersetzer, die, wie die Autoren selbst, brillant sein können, aber nicht bühnentauglich sein müssen.
So ist das Podium meist von einer Vierermannschaft besetzt, aus der eine Person moderiert, eine dolmetscht, eine vorliest und eine ein Buch geschrieben hat. Interessant wird es, wenn die Beteiligten ihre Rollen nur bedingt annehmen, wie einmal der Schauspieler Burghart Klaußner, der, nach seiner eindrucksvollen Lesung von Michael Greenbergs „Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde“, den ihm zukommenden Applaus unwillig beiseitewischt, da es hier „um den Autor“ gehe. Einmal wünscht man sich als Zuhörerin beim Verlesen von Lyrik durch Lyriker, man hätte sich stattdessen lieber beizeiten mit der wunderbaren Anthologie „Wenn ohne Grund die Nacht schön ist“, die von den Berliner Festspielen zum Anlass herausgegeben wurde (Verlag Vorwerk 8, 10 Euro), zum Selberlesen zurückgezogen. Und einmal erntet der Moderator den einzigen Lacher einer Veranstaltung, als er, vielleicht verstimmt über die einsilbigen Antworten, die er vom zurückhaltenden Gast hat kassieren müssen, zu einer Frage anhebt mit „Wenn man Sie so ansieht, glaubt man nicht, dass Sie so komisch sein können.“
Ungleich denkwürdiger dagegen am selben Abend die Lesung des Amerikaners John Wray. Der Autor, zur Hälfte Österreicher, braucht keinen Dolmetscher und bestreitet die Lesung ganz allein in zwei Sprachen. Hochgradig eigenartig ist es, dabei zu erleben, wie aus seiner Person zwei auffällig verschiedene Stimmen kommen. Während die deutschsprachige Lesung von einem hellen, freundlich-umständlichen Tenor bestritten wird, ist es ein deutlich tiefer gelegter, gefährlich lässiger Sprechbariton, der das englische Original vorträgt. Das mag etwas über das innere Wesen der jeweiligen Sprache aussagen, mutet aber dennoch unheimlich an. Zumal es sich bei dem hochgelobten „Retter der Welt“ um einen Roman über Schizophrenie handelt.
Doch insgesamt scheinen all diese Autoren ganz normale Menschen zu sein, die höflich plaudern und geduldig Gedrucktes signieren. Wer auf dem Festival die besondere Aura der Dichter gesucht hat, mag enttäuscht sein, denn es scheint sie nicht zu geben. Bis dann, am vorletzten Abend, ein kleiner alter Herr mit Gehstock die große Bühne des Hauses der Festspiele betritt und man plötzlich ganz unwillkürlich das Gefühl hat, der Atem der Literaturgeschichte wehe mit herein. Der 83-jährige Siegfried Lenz ist gekommen. Weit entfernt davon, Geschichte zu sein, beglückt er sein Publikum mit so geistvollen Repliken, dass man sich auf einem gänzlich neuen Niveau unterhalten fühlt. Auch dass er beim Schreiben oft selbst lachen müsse, bekennt er, und dass seine Frau sich deswegen manchmal Sorgen mache. Zum Schluss liest Lenz persönlich einen (seinem alten Freund Reich-Ranicki gewidmeten) Text mit dem Titel „Der große Zackenbarsch“. Und der große Saal badet in einer kollektiven Heiterkeit, wie er sie, das ist sicher, in diesen zwölf Tagen bisher nicht erlebt hat. Ein großes Geschenk zum Ende eines langen Literaturmarathons. KATHARINA GRANZIN