Der furchtlose Wanderer

FREIDENKER Innovation durch Improvisation: Auf „Manafon“ treibt der englische Musiker David Sylvian elektronischen Pop über seine Grenzen hinaus und findet eine neue Form jenseits von Song und Harmonie

Gleich im ersten Stück, „Small Metal Gods“, verabschiedet er all die Götter, denen er für einige Zeit gefolgt ist

VON TIM CASPAR BOEHME

Ein Reh blickt scheu durch die Bäume. Der Wald, in dem es steht, wirkt unnatürlich grün. Auch die Pilze am Wegrand scheinen nicht dorthin zu gehören, wie bei Traumelementen schiebt sich alles ineinander. Diese Natur, suggeriert das Foto auf David Sylvians neuem Album „Manafon“, ist anders als die, die man im Freien findet. Es gibt sie nur im Kopf. Fremd und menschenleer ist es dort, zugleich sehr konstruiert.

Ein passenderes Bild für die Einsamkeit hätte sich Sylvian kaum aussuchen können. Seit einigen Jahren lebt der britische Musiker zurückgezogen in den Wäldern Neuenglands. Doch statt einer unberührten Idylle zeigt das Cover des niederländischen Künstlers Ruud van Empel einen hermetischen Fantasieraum. Auch die Stücke handeln von Introspektion und Einsamkeit. Fremd klingt die Musik dazu, scheinbar haltlos navigieren die Instrumente durch unerforschtes Klanggebiet, von Pop kaum eine Spur.

Improvisation statt Plan

Mit „Manafon“ setzt Sylvian den Weg fort, den er auf seinem Vorgängeralbum „Blemish“ eingeschlagen hatte. Der Meister elegant arrangierter Melancholie mit der sanft-seltsamen Stimme sang hier plötzlich über rohe Improvisationen ohne eindeutige Form. Drei Stücke von „Blemish“ entstanden gemeinsam mit dem 2005 verstorbenen Freejazz-Gitarristen Derek Bailey, einem der Begründer der freien Improvisation. Für „Manafon“ hat Sylvian nun die größten Namen der internationalen „Improv“-Szene versammelt. „ ‚Blemish‘ deutete eine Menge von Möglichkeiten an, und neben meinen eigenen Improvisationen waren besonders diejenigen mit Derek zukunftsweisend für mich. Ich wollte herausfinden, ob es möglich ist, mit größeren Ensembles zu arbeiten.“

Am Anfang gab es wenig mehr als die vage Idee einer „modernen Kammermusik“. „Als ich die erste Aufnahmesession 2004 in Wien plante, hatte ich lediglich die Vorstellung: Wenn ich es höre, weiß ich, was es ist.“ Am wichtigsten war daher für Sylvian, die richtigen Musiker zu finden. Christian Fennesz, österreichischer Gitarrenexperimentator und ebenfalls auf „Blemish“ vertreten, stellte den Kontakt zum Wiener Ensemble Polwechsel her. Mit anderen Musikern wie dem britischen Gitarristen Keith Rowe, einem Gründungsmitglied der Experimentalpioniere AMM, hatte Sylvian schon vorher gesprochen. Als weitere prominente Mitstreiter kamen der Saxofonist Evan Parker, der Pianist John Tilbury und der Gitarrist und Elektroniker Otomo Yoshihide hinzu.

Seine Rolle bei den Aufnahmen beschreibt Sylvian als die eines Produzenten. Anfangs war er noch unsicher, ob es überhaupt möglich sein würde, den Musikern völlige Freiheit beim Spielen zu lassen, sie zugleich aber dazu zu bringen, sich innerhalb der von ihm gesetzten Parameter zu bewegen. Schließlich wollte er die Musiker nicht nur in eine bestimmte Richtung dirigieren, sie sollten ihm überdies die entstandenen Aufnahmen überlassen, damit er das Material nach Belieben verwenden konnte. Zu seiner großen Überraschung waren alle einverstanden, kein Musiker sagte ab. „Ich hätte alles damit tun können, ich hätte darin herumschneiden und es radikal bearbeiten können.“

Stattdessen entschied sich Sylvian dafür, die Improvisationen in ihrem Kern unberührt zu lassen und allenfalls Einleitungs- und Schlussteile zu ergänzen. Hin und wieder legte er die Instrumente der verschiedenen Sessions in Wien, London und Tokio übereinander und ließ aus dem freien Zusammenspiel eine Art minimal-invasiver Komposition entstehen. Seinen Gesang fügte er nachträglich hinzu. Die Texte entstanden beim Hören der Aufnahmen, alles, was ihm spontan einfiel, wurde notiert. Ganz zum Schluss kamen die Melodien. Was an „Manafon“ sofort hervorsticht, ist die Dominanz des Sängers. Sylvian hat seine Stimme stark in den Vordergrund gemischt, durch die sparsamen, aufs Äußerste reduzierten Gesten der Musiker wirkt der Gesangspart zusätzlich isoliert und nackt. So dienen die Instrumente als akustische Lupe: „Die Bedeutung der Stimme wird vergrößert. Sie wird durch nichts verdeckt, man fühlt sich völlig bloßgestellt. Das hat eine doppelte Wirkung: Zum einen schafft sie beim Hörer ein Gefühl von Intimität, er spürt aber auch die Isolation des Erzählers.“

Viele der Texte sind in der dritten Person geschrieben, im Grunde handeln jedoch alle von Sylvian und seiner Einsamkeit. Dass er als Erzähler selten „ich“ sagt, geschieht mit Rücksicht auf sich selbst – und die Hörer. Weder ihm noch seinem Publikum sollten die manchmal heiklen Themen Unbehagen bereiten. Und, so eine seiner Anfangsideen für das Projekt, jeder Satz sollte richtig klingen. Man könnte ergänzen, dass jeder Satz auf „Manafon“ durchaus auch selbstbewusst klingt. Statt eines verzweifelten Eremiten meint man einen Wanderer zu vernehmen, der langsam und furchtlos in einen dunklen Wald hineinschreitet. Sylvian gefällt dieser Gedanke. „Es hat etwas Furchtloses, wenn man sich ganz offen selbst analysiert, ohne dabei die angesprochenen Dinge zu verwässern.“ Gleich im ersten Stück, „Small Metal Gods“, verabschiedet er all die Götter, denen er für einige Zeit gefolgt ist. Nach Jahren bunt-esoterischer spiritueller Suche wirft er sie jetzt als „Kinderkram“ auf den Müll. Die Reise ins Innere setzt sich über die gesamte Albumlänge fort.

Introspektion trifft

Introspektion allein macht aber noch kein sensationelles Album. Erst zusammen mit der freien Kammermusik, die Sylvian während der Reise begleitet, lässt „Manafon“ an Luft von anderen Planeten denken. Radikaler als viele Musiker, die mit Tracks arbeiten und so die Songstruktur untergraben, verzichtet Sylvian auf jegliche Form – mit der Ausnahme, dass seine eigenen Melodien aus wiederkehrenden Figuren bestehen und meistens tonalen Charakter haben. Das Drumherum spricht eine diffusere, zerbrechliche Sprache. Sylvian ist die vorgegebenen Muster der Popmusik leid, sie haben für ihn an Reiz und Bedeutung verloren.

Der ehemalige Sänger der New Wave-Band Japan, der kurz vor dem ganz großen Durchbruch zu Beginn der Achtziger seine Kollegen verließ, hatte seither seine eigenen Experimente in Sachen Pop durchgeführt, zunächst ohne die Formsprache des Songs aufzugeben. Seine neue Freiheit eröffnete ihm eine Reihe zusätzlicher Ausdrucksmöglichkeiten. „Die Improvisationen erlaubten es mir, die Sprache in völlig anderer Weise zu benutzen. Ich konnte nüchterne Alltagssprache benutzen, die nicht klobig klang. Genauso konnte ich eine sehr poetische und suggestive Sprache verwenden, die ebenfalls ihren Ort fand. Auch bei den Melodien konnte ich auf die unterschiedlichsten Quellen zurückgreifen. ‚Manafon‘, das Titelstück, ist für mich wie ein Folk Song.“ Benannt ist das Album nach dem ersten Sprengel des walisischen Pastors und Dichters R. S. Thomas. Der menschlich etwas schwierige Thomas war nicht sonderlich erfolgreich darin, die Gemeinde am Sonntag in die Kirche zu bewegen. Dafür schrieb er während dieser Zeit seine ersten drei Gedichtbände. „Manafon wurde für mich zu einer Metapher für dichterische Fantasie.“

Konzerte sind nicht geplant. Ob er weiter atonale Musik schreiben oder sich wieder dem Vokabular des Pop zuwenden wird, lässt er offen. Noch im Jahr 2005 hatte er mit seinem Projekt Nine Horses eine wunderbare Kombination aus Songs, Elektronik und Jazzimprovisation geschaffen. Regression jedenfalls ist kaum von ihm zu erwarten. Sein Blick ist bei aller Introspektion nach vorn gerichtet: „Man hofft immer, dass man zur Entwicklung dessen beiträgt, in das man sein Leben investiert hat.“

■ David Sylvian: „Manafon“ (Samadhi Sound)