: „Die Täter sind jetzt alle tot“
Der italienische Militärstaatsanwalt Marco De Paolis hat eine Vielzahl von Gerichtsverfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher als Ankläger geführt, auch gegen Beschuldigte des SS-Massakers in Sant’Anna di Stazzema. Nun wird er mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Interview von Sandro Mattioli↓
Herr De Paolis, was bedeutet Ihnen diese Ehrung nach all diesen Jahren?
Die Ehrung ist eine weitere Bestätigung – wenn es überhaupt einer Bestätigung bedurfte – für die Notwendigkeit dieser Prozesse. Als ich vor etwa 20 Jahren angefangen habe, die Ermittlungen gegen deutsche Kriegsverbrecher zu führen, hatte ich die Sorge, mich zu schnell in die Arbeit gestürzt zu haben, die sich als sehr schwierig herausgestellt hat. Diese Anerkennung von Seiten Deutschlands ist eine sehr bedeutende Anerkennung. So ein großes Land wie Deutschland an seiner Seite zu wissen, auf dem Weg in Richtung Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit, ist für mich eine große Befriedigung.
Am Anfang wollte weder Deutschland noch Italien, dass man dieses Thema überhaupt in Angriff nimmt. Oder liege ich da falsch?
Nein, was Sie sagen, ist richtig. Sowohl für Deutschland als auch für Italien war es kompliziert, sich der Vergangenheit zu stellen. Tatsächlich legt diese Verspätung auch Zeugnis ab von den Schwierigkeiten in Italien. Ich denke, diese Anerkennung aus Deutschland ist auch ein Stimulus für Italien.
Die Zahlen sind beeindruckend: Sie haben 450 Verfahren durchgeführt, 17 Prozesse an Gerichten haben zu 57 Verurteilungen von deutschen Militärs zu Haftstrafen geführt. Wie viele der Verurteilten haben ihre Haftstrafen angetreten?
Niemand. Keine einzige dieser Personen.
Wie kann das sein?
Bei 56 Verurteilungen reden wir von erstinstanzlichen Urteilen. In weiteren Stufen des Prozesses, im Berufungsprozess etwa, sind einige dieser Personen gestorben. Allerdings hätten viele – wir reden hier von etwa 35 bis 40 Personen – die Strafe antreten können, ja, antreten müssen. Das ist ein dunkler Aspekt im Ganzen.
Dafür hätte Deutschland die italienischen Urteile umsetzen müssen, was nicht geschah. Kann man also sagen, dass diese Prozesse am Ende Italien etwas gebracht haben, aber nicht Deutschland?
Sie haben sicher größere Bedeutung für Italien gehabt. Ich glaube aber auch, dass sie einen wichtigen Wert für Deutschland gehabt haben. Denn es ist in jedem Fall etwas Wichtiges geschehen: es wurde ein Rechtsprinzip bestätigt. Wäre dem nicht so, wäre es für die Leugner heute einfacher, diese Kriegsverbrechen zu verharmlosen oder zu verleugnen.
Was meinen Sie damit genau?
Es ist immer sehr kompliziert, Kriegsverbrechen zu verurteilen. Weil es eine Justiz ist, die von den Siegern ausgeübt wird, die immer etwas unter Verdacht steht. Auch, wenn es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht. Doch wir reden hier von der Tötung von tausenden Frauen und Kindern und von Kriegsgefangenen. Diese Massaker müssen verfolgt und aufgearbeitet werden. Oder nicht?
Absolut.
Dennoch ist es immer schwierig, dieses Rechtsprinzip zu bestätigen, wenn es sich um Kriegsverbrechen handelt. Weil die Bedingungen des Krieges eine Rolle spielen, weil sich die Politik einmischt. Das macht diese Bestätigung auch so wichtig. Diese Prozesse haben das Verdienst, das Prinzip in seiner Ganzheit zu bestätigen. Das bedeutet nicht nur, dass dieses Verhalten an sich kriminell war, sondern auch, dass die Verantwortung dafür von den Tätern übernommen werden muss. Nicht nur von den Kommandanten, den oberen Hierarchien, sondern von allen Ausführenden. Das ist ein Prinzip der Verantwortlichkeit von Militärs, dass heute sehr aktuell ist …
… und das auch universell ist und sich nicht nur auf einen deutschen Kontext bezieht.
Natürlich. Es betrifft alle Kriegsschauplätze, alle kriegerischen Aktivitäten. Es ist daher für mich ein universeller Wert aus diesen Prozessen.
Wenn wir die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden in den Blick nehmen, vor allem mit der Justiz in diesen 16 Jahren von 2002 bis 2018, ist Ihnen da eine Entwicklung aufgefallen?
Viele Menschen in Stuttgart erinnern sich daran, dass man im Fall des Massakers von Sant’Anna di Stazzema die Justiz zum Jagen tragen musste.
Natürlich gabe es Behörden, die besser koordiniert haben und andere, bei denen es weniger gut war. Aber ich kann mich bei den deutschen Justizbehörden nur bedanken für die gute Zusammenarbeit. Ohne diese Unterstützung hätte ich meine Ziele in diesen Verfahren nicht erreichen können. Das vergesse ich nicht und das unterstreiche ich immer. In dieser Hinsicht habe ich mich sehr europäisch gefühlt. Ich habe mich als europäischer Bürger gefühlt in diesen Jahren, dank dieser Aktivitäten mehr als je zuvor. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung.
Es hat ja alles mit diesem Schrank der Schande angefangen, in dem alte Akten über Kriegsverbrechen weggeschlossen waren. Was ist eigentlich aus ihm geworden?
Einige Kommunen haben nachgefragt, weil sie ihn ausstellen wollten, etwa in einem Museum. Aber diesen Schrank gibt es nicht mehr. Ich vermute, er ist bei der Erneuerung der Möblierung des Gebäudes zerstört worden.
War es wirklich so, dass dieser Schrank zur Wand gedreht war, verschlossen und sogar mit einem Eisengitter gesichert?
Das Eisengitter gab es tatsächlich, weil der Palazzo Cesi, in dem der Schrank stand, ein antikes Gebäude ist. Da, wo jetzt das Archiv ist, war früher im 17., 18. Jahrhundert etwas anderes, vermutlich Lagerräume. Deshalb waren manche Korridore mit Gittertüren gesichert. Das war aber etwas Normales. Ich kann also nicht berichten, dass der Schrank mit der Front gegen die Wand gedreht war, es gibt dazu verschiedene Aussagen.
Der Schrank wurde also nicht eigens gesichert, sondern die Abschränkung war Teil des Gebäudes?
Sie sind Journalist und können sicher verstehen, dass manchmal eine etwas kolorierte Beschreibung das Geschehen besser darstellen kann. Die Wahrheit ist, dass diese Akten 1960 in das Archiv in diesem Gebäude ins Erdgeschoss geschickt worden sind. Es ist nicht so, dass sie versteckt worden sind. Alle älteren Staatsanwälte wussten, dass es dieses Archiv gibt. Immerhin war der damalige Militärstaatsanwalt von Rom, Herr Intelisano, nicht der Allerjüngste, als er den Prozess gegen den Kriegsverbrecher Erich Priebke führte. Intelisano hat nach diesen Akten gefragt. Er wusste folglich von der Existenz dieses Archivs.
Man kann es sich zwar nur schwer vorstellen, aber gibt es jetzt noch Akten, die nicht abgearbeitet worden sind? Sind noch Prozesse zu erwarten?
Nein, und ich glaube auch nicht, dass das noch möglich ist. Die Protagonisten sind jetzt sicher alle tot. Oder quasi sicher. Mein Vater ist 96 Jahre alt, er hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Wir müssten also die über Hundertjährigen finden. Das ist wenig wahrscheinlich. Laufende Prozesse gibt es keine.
Was ist Ihnen von den Verfahren besonders im Gedächtnis geblieben? Sie hatten mit unvorstellbarem Grauen zu tun, es ist die Rede von 9.000 Opfern, Frauen, Kinder, Männer, die Zivilisten waren.
Zunächst eine Präzisierung: die Zahl der zivilen Opfer dieser Verbrechen, dieser Massaker, bewegt sich bei mindestens 25.000. Die Zahl der ermordeten Kriegsgefangenen beläuft sich auf sechs- bis siebentausend. Es ist schwer, Ihnen eine Antwort zu geben. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, es sind so viele schreckliche Dinge. Was mir in den Sinn kommt: eines ist sicher der Betsaal von Cerpiano in Marzabotto. Das ist ein kleiner Raum, in den etwa 40 Kinder gesperrt worden waren mit ihrer Lehrerin, einer Ordensschwester und zwei, drei alten Leuten. Eingeschlossen in diesem Zimmer wurden sie mit Maschinengewehren erschossen, sie haben Handgranaten durch die Fenster geworfen. Die Tatsache, dass manche SS-Soldaten die ganze Nacht gewütet haben, all die Todgeweihten ermordet haben, die sie finden konnten, hat mich immer stark betroffen gemacht.
Gab es eigentlich eine Reaktion von Seiten der Täter, einen Brief etwa? Etwa, dass jemand bedauert, was er damals getan hat?
Nein. Ich habe sehr viele deutsche Militärs kennengelernt, SS und andere, aber ich bin nie auf jemanden gestoßen, der das Geschehene bereut hätte, im Gegenteil. Mir ist es einige Male passiert, dass ich wütende Menschen vor mir hatte, die noch immer Animositäten gegen die Italiener hatten. Das Besondere daran ist, es waren auch Leute, die als Zeugen gehört wurden. Die Angeklagten hatten immer ein sehr abweisendes Verhalten an den Tag gelegt, extrem kalt und gleichgültig. Es ist in jedem Fall für sie immer noch schwer, über diese Dinge zu reden.
Wenn Sie Deutschland etwas mit auf den Weg geben könnten nach all diesen Jahren, was wäre es?
Ich denke tatsächlich darüber nach, was ich bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes sagen soll. Ich kann nur hoffen, dass unsere Länder heute an die lebendigen Werte glauben, die die Basis unserer Verfassungen sind, Demokratie, Solidarität und Freiheit. Die wichtige Botschaft ist – und das gilt für Italien, das gilt aber auch ein Stück weit für alle Länder Europas: Ich habe eine Erfahrung hinter mir, die es mir erlaubt hat, eine bestimmte zeitliche Periode besser zu verstehen, furchtbare Dinge, die im vergangenen Jahrhundert passiert sind. Aber das bedeutet, dass es eine Pflicht gibt von Seiten der deutschen und italienischen Öffentlichkeit, den jungen Menschen weiterzuvermitteln, was damals geschehen ist. Denn es besteht die Gefahr, dass sich so etwas wiederholen könnte.
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