: Kein Grund zum Schneiden
KINO In Frankfurt sprach David Bordwell über das Erzählen ohne Schnitt in der Frühzeit des Kinos
Dieser Mann ist unermüdlich. Aus ihm sprudeln Filmtitel, Regisseure, Jahreszahlen, Kameraeinstellungen hervor wie aus einer gut geölten Maschine. Dabei spricht er mit einer Leidenschaft und Inbrunst von filmischen Dingen, dass man augenblicklich nichts anderes mehr tun möchte als in abgedunkelten Räumen Filme schauen, wie man sie vorher noch nicht gesehen hat. Der amerikanische Filmtheoretiker- und -historiker David Bordwell ist Professor an der Universität von Wisconsin und gern gesehener Gast bei Filmstudenten in aller Welt.
Auf Einladung der Goethe-Universität und des Filmmuseums in Frankfurt war Bordwell zu Gast, um über die für ihn wichtigste Epoche der Filmgeschichte zu referieren: die Jahre zwischen 1908 und 1920. Diese dreizehn Jahre hätten das Kino auf der ganzen Welt verändert, erläutert er in seinem Vortrag „How Motion Pictures became Movies“. Die Entstehung der Filmindustrie fällt in diese Zeit. Aus Theatern werden prachtvolle Kinosäle, und vielerorts eröffnen eigene Lichtspielhäuser. Der Film mausert sich zur beliebten Abendunterhaltung. Filmzeitschriften etablieren sich, Filmkritiker lernen ihr Handwerk, und die ersten Stars betreten die Leinwand: Charlie Chaplin, Asta Nielsen und italienische Diven. Auch Filmformate, Dramaturgien, Genres festigen sich. Kurz: Das Kino erfindet sich.
Zwei Arten des Filmemachens entwickeln sich dabei parallel: Das Verfahren der klassischen Montage, die mit „unsichtbaren Schnitten“ operiert („Continuity-Editing“): Ein Mann verlässt einen Raum, im nächsten Bild betritt er einen anderen Raum. Was dazwischen geschieht, sehen wir nicht, können es uns aber denken. Das kann man freilich auch ganz ohne Schnitt erzählen, indem man das Bild inszeniert: „Tableau-Staging“ war ein früher eher in Europa gängiges Verfahren und eine Art des Filmemachens, die für Bordwell ebenso maßgeblich und stilbildend ist wie die Montage, die vielen als die Essenz des Kinos gilt.
Als Beispiel hat Bordwell den Stummfilm „Ingeborg Holm“ des schwedischen Regisseurs Victor Sjöström aus dem Jahr 1913 mitgebracht. Ein Film, der die sozialen Missstände der Zeit anprangert und mit Hilda Borgström als herausragender Hauptdarstellerin auftrumpft. Für Bordwell gehört der Film zu den stilistisch schönsten Melodramen überhaupt. In einer zentralen Szene muss Ingeborg Holm sich ihrer Armut wegen nacheinander von ihren Kindern trennen. Die Übergabe an die jeweilige Pflegemutter inszeniert Sjöström dreimal auf dieselbe Weise, indem er die Tiefe des Raums nutzt, um die Figuren auf- und abtreten zu lassen. An dieser Szene veranschaulicht Bordwell das Geschichtenerzählen ohne Schnitt. Die Figuren treten wie im Theater auf und ab; mit dem Unterschied, dass der Regisseur unseren Blick lenken kann und alle Zuschauer von allen Plätzen den gleichen Ausschnitt sehen. Sjöström arrangiert seine Bilder wie ein Gemälde, spielt mit Perspektiven und Fluchtpunkten. Bordwell spricht bewundernd von einer Choreografie, einem Tanz gar. „No Need for Cutting“ („Kein Grund zum Schneiden“), ruft er fröhlich und berichtet, dass dieses Verfahren heute eher im Independentfilm zu Hause ist.
Sjöström emigrierte wie so viele andere europäische Kinogrößen auch nach Hollywood. Dort wurde er in kurzer Zeit ein Meister der dort üblichen Montageform. SHIRIN SOJITRAWALLA